Sie nennt sich die „neueste Altstadt Europas“ und soll dem Literaturnobelpriesträger Ivo Andrić gewidmet sein. Emir Kusturicas Prestigeprojekt im bosnischen Višegrad ist zum Symbol für den lockeren Umgang mit Geschichte geworden, mit dem in Ex-Jugoslawien Nationalisten ihre Ansprüche zu legitimieren versuchen. Politisch neutral ist in diesem Kitschprojekt nur der Bankomat.
Etwas verwirrt stehe ich am halbvollen Parkplatz der Steinstadt auf der Halbinsel, die die Mündung des Rzav in die Drina bildet.
Eine Seite der Steinmauer Andrićgrads ist laut Prospekt byzantinisch. Die andere osmanisch.
Ich kann beim besten Willen nicht entscheiden, welche Seite welche sein soll. Beide Seiten erinnern an Kulissen für einen billigen italienischen Monumentalfilm aus den 70-ern.
Warum der Komplex eine Mauer braucht, ist sowieso nicht klar.
Die Souvenirhändler am Rand des Parkplatzes bieten Touristenkitsch feil, billige Rakija und Konterfeis von Draža Mihailović, dem Anführer der Četnici im Zweiten Weltkrieg.
Heute stehen sie eher gelangweilt herum. Vielleicht liegt das daran, dass es nieselt. Vielleicht stammen auch nicht alle Autos am überdimensioniert wirkenden Parkplatz von Besuchern von Emir Kusturicas Prestigeprojekt.
Im Stadtzentrum von Višegrad sind Parkmöglichkeiten so rar wie in allen anderen Städten des Landes.
Außerdem ist ein Hotel im Komplex untergebracht, das sicher auch Gäste haben wird. Zimmer sind ab 25 Mark die Nacht zu haben. Das sind 12 Euro 50. Frühstück inklusive. Das ist sogar für Višegrader Verhältnisse günstig.
Die Souvenirhändler freuen sich, als ich ein paar Fotos mache.
Woher das Geld kommt
Ein Bosnien aus der Ära von Ivo Andrić soll die künstliche Stadt sein, hat ihr Schöpfer Emir Kusturica, einst umjubelter Filmregisseur, verkündet. Jedenfalls soll sein Projekt auf der Halbinsel unterhalb der Mehmed Paša Sokolović-Brücke das Werk von Jugoslawiens bedeutendstem Schriftsteller feiern.
Oder das, was Kusturica und sein Geldgeber Milorad Dodik für Andrićs Werk halten. Dodik ist der nationalistische Präsident des bosnischen Teilstaats Republika Srpska.
Er droht mit einer gewissen Regelmäßigkeit, ein Referendum über die Unabhängigkeit seines Reichs abzuhalten. Das würde die Zerschlagung Bosniens bedeuten.
Vergesst den Prater-Vorplatz
Als Wiener ist man vom Prater-Vorplatz einiges an Zumutungen gewohnt, die Architekten für Authenzität halten.
Gegen Andrićgrad wirkt selbst dieses Konglomerat zuckersüßen Kitsches wie historisch akkurat und von ausgelesenem Geschmack.
Das wird einem bei den ersten Schritten durch das Tor klar, bei dem ich immer noch nicht weiß, ob es byzantinisch oder osmanisch sein soll oder beides.
So gerade, so eben, so akkurat gepflastert ist keine einzige Straße in Bosnien wie die Hauptstraße von Andrićgrad. Wasserwagen könntest du dort eichen.
Selbst wo du in Bosnien historische Altstäde findest, die aus so viel hellem Naturstein gebaut wurden wie hier, in Sarajevo etwa, in Mostar oder in Travnik, die Läden, Lokale und Wohnhäuser würden nie so akkurat dem Straßenverlauf entlang aufgefädelt sein.
Wo du außerdem im historischen Višegrad eine einzige Straße finden willst, die so breit ist wie diese Hauptstraße, ist wahrscheinlich Kusturicas Geheimnis.
Die armen Schüler
An mir rauscht eine Schulklasse vorbei. Vierte Klasse Volksschule, wie mir der Lehrer im Vorbeigehen erklärt. „Wir sind aus Goražde“, sagt er. Das ist nur ein paar Kilometer die Drina entlang von Višegrad entfernt.
Er versucht, mit den Schülern aufzuschließen, die der Fremdenführerin mit aufgespanntem Regenschirm hinterherlaufen, deren Sprechtempo ihr forsches Gehtempo um einiges zu übertreffen vermag.
Sie rattert die Lebensdaten Andrićs herunter als versuche sie eine neue Disziplin der Olympischen Spiele zu gewinnen.
Vielleicht ist es die Gleiche, die einem Reporter der „Jungen Welt“ einzureden vermochte, das Projekt sei ein Statement gegen die nationalistischen Vereinnahmungsversuche des Werks von Ivo Andrić.
Eine künstliche Wiedergeburt
Am Ende der Hauptstraße schimmert einem im Nieselregen hinter einer Statue des Schriftstellers – eine Kopie derer vor seinem Museum in Beograd – ein blendend helles Gebäude entgegen, wie man es im ganzen Land vergeblich suchen würde.
Das Ivo Andrić-Institut wurde im Stil der „bosnischen Renaissance“ erbaut. Den hat sich Emir Kusturica eigens für dieses Projekt ausgedacht.
Die Renaissance hat es in Bosnien nie gegeben. Das Land war bis 1878 unter osmanischer Herrschaft. Was wäre passiert, wenn das nicht passiert wäre – das soll dieses Gebäude darstellen.
Kusturica greift damit den Topos der bosnischen Diskontinuität auf. Der Weg der bosnischen Gesellschaft sei mit der jahrhundertelangen osmanischen Oberherrschaft unterbrochen worden.
Das hat einige realpolitische Implikationen. Serbisch-nationalistische Vertreter dieser These leiten aus ihr einen Auftrag ab, den Einfluss der muslimischen Bosnjaken zu begrenzen. Sie nennen sie bis heute verächtlich Türken.
Dass es auch in Serbien keine Renaissance gab und das Land de facto nur 70 Jahre vor Bosnien unabhängig wurde und die osmanische Oberherrschaft de jure im gleichen Jahr durch den gleichen Kongress beendet wurde wie in Bosnien, wird in diesen Kreisen seltsamerweise nie in vergleichender Weise in Betracht gezogen.
Die Sache mit der Schrift
Auf dieser Spitze einer Halbinsel ist es, als sei die bosnische Geschichte immer eine ausschließlich serbische Angelegenheit gewesen. Als hätten Bosnjaken und Kroaten nie existiert.
Straßenschilder sind ausschließlich in kyrillischer Schrift.
Im Rest Višegrads spiegelt die kyrillische Schrift die Tatsache wieder, dass die Mehrheit der Stadtbevölkerung heute ethnisch serbisch ist. Es ist die Schrift ihres Idioms der Sprache, die einmal Serbokroatisch hieß.
Man mag auch das als eine Art Landnahme sehen. Historisch war Višegrad immer eine gemischte Stadt mit bosnjakischer Bevölkerungsmehrheit. Im Krieg „säuberten“ serbische Milizen die Stadt, 3.000 Bosnjaken wurden ermordet.
Aber es im heutigen Bosnien so, wie es ist: Die Bevölkerungsmehrheit bestimmt das Idiom, das offiziell in einer Gemeinde verwendet wird. Das ist in mehrheitlich kroatischen oder bosnjakischen Gemeinden nicht anders.
Nur: Andrićgrad soll laut Aussage von Emir Kusturica „Erinnerung an eine ferne Zeit jenseits des Hasses“ sein. Da wirkt es etwas seltsam, dass Straßenschilder ausschließlich auf Kyrillisch beschrieben sind. Im Gegensatz übrigens zu den meisten kommerziellen Einrichtungen. Man hofft ja doch auf internationale Kundschaft.
Und es wirft die Frage auf, wie historisch stimmig Kusturicas Vision sein soll. Višegrad lag nie in Serbien.
Eine verschlossene Bibliothek
Wie es in der Stadt zuging, schildert am besten Andrićs Hauptroman Die Brücke über die Drina/Na Drini ćuprija. Dem ist der Komplex angeblich auch gewidmet.
Ich habe die Schulklasse aus den Augen verloren. Vielleicht hat sie die Fremdenführerin in die Ivo Andrić-Bibliothek entführt. So sie einen Schlüssel hat.
Die Bibliothek, angeblich der Erforschung der Schriftstellers gewidmet, hat kein Schild mit Öffnungszeiten. Die Türen sind verschlossen. Glocken gibt es keine.
Vielleicht sind die armen Kleinen auch kollabiert bei dem Versuch, ihr zu folgen und erholen sich in irgendeiner Ecke von den Strapazen.
Die Wandgemälde
So stehe ich staunend vor den Wandgemälden neben dem Kino Dolly Bell. Das rechte zeigt Emir Kusturica und ganz vorne Milorad Dodik, den nationalistischen Präsidenten des bosnischen Teilstaats Republika Srpska.
Das linke zeigt die Mlada Bosna. Die Geheimorganisation versuchte vor dem Ersten Weltkrieg, die österreichische Herrschaft in Bosnien zu destabilisieren um die Heimat von der Fremdherrschaft zu befreien.
Ihre bekanntesten Mitglieder: Gavrilo Princip. Sein Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand Habsburg war der Funke, der den Ersten Weltkrieg auslöste.
Und Ivo Andrić. Der in Travnik geborene und Višegrad aufgewachsene Schriftsteller hatte kroatische Wurzeln und schrieb die bedeutendsten und meisten seiner Werke im serbischen Idiom. Vor allem serbische und bosnjakische Nationalisten versuchen seit Jahrzehnten, ihn zu vereinnahmen beziehungsweise zu verdammen.
Nicht erkennbar für Enes Škrgo, Leiter des Museums Rodna kuća Ive Andrića in Travnik ist auf dem Gemälde Muhamed Mehmedbašić, das bosnjakische Mitglied der Mlada Bosna.
Der politisch korrekte Bankomat
Ich beschließe, der Sache etwas Gutes abzugewinnen. Im Buchgeschäft wird man doch Andrić-Übersetzungen haben, die in Österreich schwer zu bekommen sind.
In Kenntnis der hierzulande hohen Buchpreise hebe ich etwas Geld beim Bankomaten ab. Das Gerät bietet mir bei der Sprachauswahl neben Englisch und Deutsch „Lokalni“ an.
Wenigstens etwas, das an diesem Ort politisch neutral ist.
„Auf Englisch oder Deutsch suchst du was von Ivo Andrić?“ fragt mich die junge Angestellte im Buchgeschäft. Sie sieht sich ein wenig um. Freudestrahlend kommt sie mit einer englischen Übersetzung von Na Drini ćuprija zurück.
„Mehr habt ihr nicht?“ „Das ist alles, was wir haben“, sagt sie und scheint enttäuscht, dass ich enttäuscht bin.
Der Kosovo-Mythos
Ich beschließe, zur Spitze der Halbinsel zu gehen. Eine Handvoll mäßig enthusiastisch wirkender Pensionisten macht Fotos von einer Büste von Nikola Tesla, die aus unerfindlichen Gründen in der Gegend herumsteht.
Vorbei an der Ivo Andrić-Statue und durch den Durchgang des Pseudo-Renaissance-Gebäudes hindurch gelange ich an einen großen Platz mit einer orthodoxen Kirche.
Für einen kurzen Moment überlege ich, ob die schon vor Kusturica da war. Sie wirkt wie viele kleine alte Kirchen in Serbien.
Kusturica hat sie dem serbischen König Lazar gewidmet. Er wurde 1389 in der Schlacht am Kosovo Polje getötet. Die Schlacht gilt als Schlüsselmoment der osmanischen Eroberung Serbiens.
Von Geronimo zu Putin
Institut und Bibliothek wirken auch am Weg zurück von der Spitze der Halbinsel nicht offener. Ich beschließe, die Zeit totzuschlagen und eine Torte zu essen.
In der Konditorei hängt eine Gemäldegruppe, die von Geronimo über Mahatma Ghandi zu Vladimir Putin führt.
Das alles seien Helden gewesen, die für ihre Völker gekämpft hätten, zitiert Krsto Lazarević einen der Kellner in einem Artikel für das Magazin n-ost.
Was das alles mit dem Namensgeber der Stadt zu tun haben soll, frage nicht nur ich mich.
„No honorable intention“
Der serbische Schriftsteller Vuk Drašković, in dessen Büro eine kleine Statue von Ivo Andrić steht, spricht von Geschichtsfälschung: „Emir Kusturica mocks history, taunts Ivo Andrić and shames him. Andrić did not build the beautiful bridge in Višegrad, but the Turkish Grand Vizier of Serbian origin, Mehmed Paša Sokolović. That Paša’s bridge is the main hero of Andrić’s novel. At Kusturica’s, there is no great benefactor, no Višegrad town of all three religions, and the one and the same language. There is not a shred of truth, no honorable intention.“
Wie unehrlich die Absichten Kusturicas aus Sicht von Andrić-Liebhabern sind, bringt Enes Škrgo auf den Punkt: „Zu Lebzeiten hat sich Andrić immer dagegen gewehrt, dass irgendetwas nach ihm benannt wird. Die Einwohner von Travnik zum Beispiel haben mit einer List durchgesetzt, dass sie wenigstens die Bibliothek nach ihm benennen dürfen. Er wäre entsetzt gewesen, wenn er dieses Projekt gesehen hätte.“
Andrićgrad sei ein Missbrauch des Schriftstellers, kritisieren Enes und Vuk. Gerade er sei mit seinem Werk immer gegen Nationalismus und Gewalt eingetreten und habe de Schattenseiten von Herrschaft dargestellt.
Kusturicas Projekt befördere eine nationalistische Re-Interpretation der Geschichte.
Das Positive an Andrićgrad
Der Beitrag zum Tourismus der Region scheint sich auch eher in Grenzen zu halten.
Zwei positive Aspekte lassen sich dem Komplex freilich auch bei kritischer Sicht einräumen.
Višegrad hat wieder ein Kino. Wenn auch eines, in dem nur internationale Blockbuster gespielt werden.
Und ich habe gelernt, dass Bankomaten politisch neutral sein können.
Mehr über meine Recherchen zur Rezeption von Ivo Andrić gibt es in diesen Reportagen nachzulesen:
Die zweieinhalb Leben des Ivo A.
Wo imaginierte Geschichte Zukunft verspricht
Geschichte erfinden mit der Jungen Welt
Am Institut für Slawistik an der Uni Graz beschäftigt sich die Andrić-Initiative wissenschaftlich mit Werk und Rezeption des Schriftstellers.
Eines der Ergebnisse soll der Dokumentarfilm „From Ashes to Words“ werden. Für seine Fertigstellung fehlt bislang das Geld.