Wo imaginierte Geschichte Zukunft verspricht

Keiner kennt Saša Stanišić. Die besten Nutten gibt’s in Vietnam. Schuld ist die CIA. Reportage aus Višegrad, wo die einzige Hoffnung auf Zukunft in einer imaginierten Geschichte liegt.

Es nieselt, als ich die Brücke betrete. Langsam, feierlich beinahe. Der glatte, helle Stein, über den meine Füße gehen, gehört zur wohl berühmtesten Brücke der Literaturgeschichte.

Außer mir ist nur ein Buschauffeur auf der Mehmed-Paša-Sokolović-Brücke. Er steht bei  der Kapija und raucht eine Zigarette.

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Višegrad ist für seine Touristengruppe nur ein Zwischenstopp. Eine Stunde oder zwei hier. Dann weiter.

Die Touristen haben sich vermutlich im Nieselregen in eines der Cafe am Rand des ehemaligen Markplatzes geflüchtet. Attraktion hin oder her, nass werden wollen sie auch nicht.

Lang vorbei ist die Zeit, als sich ein Gutteil des gesellschaftlichen Lebens der Kleinstadt auf dieser Brücke abspielte.

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Streng genommen ist das nicht die Brücke aus Ivo Andrićs Roman. Nachdem die Österreicher Teile im Ersten Weltkrieg beim Rückzug gesprengt hatten, wurde sie aus den Original-Steinen wieder aufgebaut. Sogar mit der Danksagungsschrift an Mehmed Paša Sokolović in türkischer Sprache in arabischen Schriftzeichen, wie sie im Osmanischen Reich und später der Türkei bis Kemal Atatürk üblich war.

Am anderen Ende, auf der Straße, auf der die Osmanen über Jahrhunderte christliche Knaben in das Innere ihres Reiches verschleppt hatten, in die Sklaverei als Janitscharen oder Staatsdiener, ragt heute die Fahne der Republika Srpska aus einer Verkehrsinsel.

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Welchen Zweck sie dort erfüllt – und welchen Sinn die Verkehrsinsel und die davor stehende Ampel haben -, erschließt sich nicht ganz.

Die vergessenen Nachbarn

Auf dieser Seite ist die Kleinstadt besonders ärmlich. Auch in der Ulica Ive Andrića. Das Haus, in dem Schriftsteller aufwuchs, ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Es gehört Privatleuten.

Vielleicht zwanzig Meter auf der anderen Straßenseite eine ausgebrannte Häuserruine aus dem Krieg. Die angrenzenden Häuser sind intakt. Nicht die kleinste Brandspur.

Die Nachbarn kommen zufällig nachhause. Ich frage sie, wer hier einmal gewohnt hat. „Wissen wir nicht“, sagt das ältere Ehepaar und verdrückt so schnell es geht.

Nachnamen braucht es hier nicht

Das in einer Stadt, wo du auch als Fremder freundlich gegrüßt wirst, wenn du durch die Wohngegenden schlenderst. Immer mit einem „Zdravo“, nie mit einem distanzierten „Dobar Dan“.

Nachnamen braucht es hier nur für Behördengänge oder den Fall, dass man zwei Leute gleichen Vornamens auf die Schnelle nicht unterscheiden kann und einem ihre Spitznamen gerade nicht einfallen.

Man mag dieser verlassenen Gegend in einer verlassenen Ecke Südostbosniens einiges nachsagen. Dass die Menschen hier nicht ausnehmend freundlich und herzlich wären, gehört nicht dazu.

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Das gilt auch für die, die nach dem Krieg aus Serbien rübergekommen sind. Željko, mein Pensionswirt, hat mich am Vortag von der Bushaltestelle abgeholt. Oder dieser Ausbuchtung an der Straße, die man Bushaltestelle nennt. Der Busbahnhof wird gerade renoviert.

„Ach, komm. Gib mir deine Tasche.“ Željko greift beherzt zu. Für einen kurzen Moment verschwindet sein Lächeln. Meine Reisetasche zieht ihm die Schulter jäh nach unten. „Was hast du da drin? Gold?“

„Bücher“, sag ich. Und mühe mich mit meinem randvollen Rucksack ab, in dem auch ein paar stecken, nebst Kamera und Laptop.

„Hier gibt’s keinen Folk“

Bambola heißt seine Pension. Bambola heißt auch sein Cafe, schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite der Pension. Bruce Springsteen hängt hier, Tina Turner, die Stones, Bonnie Tyler, Jimi Hendrix.

„In diesem Cafe wirst du keinen Folk hören“, hat mir Željko stolz erklärt. „Hier gibt’s nur Rock. Das ist meine Musik. Da war ich jung. Das andere, das brauch ich nicht.“

Ein guter Start. Turbo Folk ist die Volkstümliche Musik des Balkan und politisch ähnlich einzuordnen. Um bei der Analogie zu bleiben, reicht das Spektrum vom harmlos-reaktionär-verkitschenden Heimatgeschunkel über den modern gekleideten Macho-Nationalismus eines Andreas Gabalier bis zum Landser-Lied.

Neue Freunde aus Subotica

Zwei Tage und zwei Nächte werde ich in Višegrad verbringen, in dieser 12.000-Einwohner-Stadt in einer verlassenen Ecke in Südostbosnien, die zwei bedeutende Schriftsteller hervorgebracht hat, der zwei großartige Romane gewidmet sind, in denen jeweils die Mehmed-Paša-Sokolović-Brücke eine herausragende Rolle spielt, die auch einem der beiden Romane ihren Namen gegeben hat: Die Brücke über die Drina/Na Drini ćuprija.

Die Brücke ist kulturell gesehen auch das einzig authentische, das die Stadt touristisch zu bieten hat.

Den ersten Touristen überhaupt begegne ich erst, als ich von meiner Erkundigungstour am anderen Drina-Ufer zurückkehre. Eine fröhliche Gruppe junger Menschen aus der serbisch-ungarischen Grenzstadt Subotica. Die Mädchen sind ausnehmend hübsch, die Burschen freundlich und zu Späßen aufgelegt.

Ich protestiere nicht, als mich Dejan auf das Steinsofa der Kapija stellt und sich die Mädchen um mich herum für ein Foto aufstellen.

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(c) Dejan Bačlija

 

Sie sind zum Raften da, sagt mir Dejan. „Das kannst du hier wirklich gut machen und hier ist es sogar für uns billig.“ Ein bisschen Party wird es auch sein.

„Wir alle hier haben unterschiedliche Nationalitäten. Da sind Ungarn dabei, Serben, Kroaten, ein Rumäne, und solche mit gemischten Eltern. Wir sind da sehr international“, sagt er stolz und meint: „Mit Nationalismus haben wir nichts am Hut“.

Der Krieg ist in den Köpfen noch nicht vorbei

Wohl ein Seitenhieb auf die Gegend, in der wir uns befinden. Der Krieg hier ist in den Köpfen der Leute auch nach 20 Jahren nicht vorbei.

Zurück in der Stadt, dort, wo früher der Marktplatz gewesen sein muss, umschmeichelt mich eine hochträchtige Straßenhündin. Der Wurf muss unmittelbar bevorstehen.

Ich kaufe ihr im nächsten Supermarkt zwei Dosen Hundefutter.

Als ich sie füttere, kommt ein vielleicht zehnjähriger ungewaschener Bub zu mir. Er hatte mit seiner etwas jüngeren Schwester am Rande des Platzes gewartet, vermutlich auf Touristenbusse.

„Geld, bitte“, sagt er überraschenderweise auf Deutsch. Er wirkt schlecht genährt. Ich gebe ihm die erste Münze, die mir in die Finger kommt. Fünf Mark (2,50 Euro).

Gleich darauf versucht seine Schwester ihr Glück. Durst habe sie, sagt sie mir auf Naški. Mühsam kann ich sie überzeugen, doch zu ihrem Bruder zu gehen. Das Geld reicht für zwei heiße Schokoladen für beide.

Angst um die kulturelle Tradition

„Weißt du, die Leute hier, die wollten nie Teil Bosniens sein“, sagt mir Željko am Abend im Bambola. Ich hatte vom Krieg kein Wort gesagt.

Sich loslösen vom gerade unabhängig gewordenen Bosnien und Teil Rumpf-Jugoslawiens bleiben, das war zumindest das offizielle Kriegsziel der politischen Führung der Republika Srpska.

Serbische Milizen kämpften gegen einen Staat, den sie nie wollten. Der Kriegerfriedhof genannte Kirchhof auf einem der Hügel der Stadt ist voll von ihren Angehörigen.

Vater und Sohn liegen hier nebeneinander. Und junge Männer, die kaum aus der Schule sind. Auch ein paar russische Freiwillige sind dort.

Peter Handke beschreibt den Friedhof in seinem Reisebericht Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau, Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien.

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Die Gräber sind gepflegt.

„Wir haben Angst“, sagt mir Miki über einem Bier im Bambola. „Wir haben die serbische Kultur zu verteidigen, unsere Tradition. Vuk Karadžić, Ivo Andrić, und so weiter.“ Miki nennt noch einige andere Namen, die mir nichts sagen. Er spricht im breitesten bosnischen Idiom.

Wie die meisten Višegrader. Die serbischen Serben, die nach dem Krieg hierhergezogen sind, erkennt man sofort am Dialekt.

Schuld ist die CIA

Jetzt möchte man behalten, was man eben hat. Einen serbisch dominierten Teilstaat mit größtmöglicher Autonomie.

Lieber wäre Miki gewesen, das alles wäre gar nicht notwendig gewesen. In Jugoslawien war’s besser. Das war ein starkes Land, sagt Miki. So stark, dass es die NATO und Amerika zerstören mussten.

Aus Željkos Jukebox klingt eine frühe Nummer von Bijelo Dugme.

„Das hat die CIA gemacht“, sagt Miki. „Izetbegović, das war ein CIA-Mann. Tudjman, das war ein CIA-Mann. Milošević, das war ein CIA-Mann.“

Letzteres ist mir neu. Die nicht notwendigerweise auf Wahrheit beruhende Interpretation zu den anfänglich genannten und die Geschichte vom starken Jugoslawien, das zerstört werden musste, kannte ich schon.

Diese Interpretation der Ereignisse wird den Višegrader seit Jahren verstärkt aufs Aug gedrückt.

Wo Geschichte imaginiert wird

Das einzige, was hier seit dem Krieg neu entstanden ist und ein paar Arbeitsplätze geschaffen hat, ist Andrićgrad. Ein Komplex ein paar hundert Meter stromabwärts von der berühmten Brücke, auf der Spitze der Halbinsel, die die Mündung des Rzav in die Drina formt.

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Das Retortenbaby des zum serbischen Nationalisten mutierten bosnjakischen Regisseurs Emir Kusturica bringt Touristen in die Stadt. Vor allem Serben und Russen. Auf dem etwas überdimensionierten Parkplatz davor finden sich auch ein paar Autos mit slowenischen Kennzeichen.

Bei Serben jenseits und diesseits nicht nur dieser Grenze gilt dieser steingewordene Weltrekordversuch in der Ansammlung von Kitsch und sonstigen Geschmacklosigkeiten als Sehnsuchtsort schlechthin. Ungeachtet jeglicher sonstiger politischer Ansichten kriegt nicht nur einer leuchtende Augen, wenn er nur den Namen hört.

Eindeutige nationalistische und revisionistische Botschaften springen dem Besucher übers ganze Gelände verstreut ins Auge. Was hier geboten wird, ist imaginierte Geschichte.

Die Souvenirverkäufer vor dem Komplex haben neben diversen Artikeln mit Ivo Andrić und Brücke drauf und der obligatorischen Rakija Portraits von Draža Mihailović, dem Führer der Četniks im Zweiten Weltkrieg.

Zu seinen Ehren gab es heuer einen Gedenkmarsch in der Stadt. Gegen den protestierten Teile der Bevölkerung, es kam zu Ausschreitungen.

Das ist die eine Seite der Geschichte.

Was mit den Bosnjaken passierte

Sie blendet gerne aus, dass serbische Milizen im Jugoslawien-Krieg die Bosnjaken der Stadt massakrierten. Die Leichen warf man in die Drina.

Der deutsche Autor Saša Stanišić beschreibt das Massaker in seinem Buch Wie der Soldat das Grammophon reparierte. Er wurde in Višegrad geboren und flüchtete als Jugendlicher nach Deutschland. Er kann zu Recht als der zweite große Autor gelten, den die Stadt hervorgebracht hat.

Višegrad gilt heute als praktisch rein serbisch. Lediglich zwei kürzlich wieder errichtete Moscheen zeugen davon, dass diese Stadt vor dem Krieg eine bosnjakische Bevölkerungsmehrheit hatte. Die kleine muslimische Gemeinde hat immerhin einen eigenen Vorstand.

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Keiner kennt Saša Stanišić

Wenn wir schon von serbischer Kultur und Literatur reden, frage ich Miki, ob er Saša Stanišić kennt. „Nein, nicht gehört. Lass mich überlegen. Nein, wirklich nicht.“

Auch Željko macht ein eher ratloses Gesicht. Stanišić, den Namen kennt er. Ja, irgendeine Familie kannte er, die so heißt. Vielleicht der Unternehmer aus Pale?

Egal, wen ich in diesen Tagen frage, niemand hat von Saša Stanišić gehört. Sie freuen sich alle, wenn ich ihnen sage, dass der interessanteste deutsche Schriftsteller seiner Generation aus ihrer Stadt kommt. Aber kennen tut oder will ihn niemand.

Sein Roman ist auch in Bosnien erschienen. Er wurde „in alle drei“ Idiome des Naški übersetzt, wie der Schriftsteller mir über Twitter gesagt hat.

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Eine gerammelt volle Disco

Am letzten Abend in Višegrad tönt YU-Rock aus einer Ecke neben dem Rathaus, als ich von einem herrlichen Abendessen zurückkehre. Ein Club oder eine Disco, je nach Geschmack, ein wenig versteckt.

Die Hütte ist gerammelt voll. Ich bin wahrscheinlich mit Abstand der älteste Gast.

Der einzige freie Platz ist an einem Tisch neben der Bar. Dort sitzen Damijan und Danijel, beide Anfang 20.

„Weißt du, was das heißt?“, fragt mich Danijel auf Englisch und zeigt auf sein T-Shirt. Auf Kyrillisch steht dort „Srbi“. Serbe. Er ist hocherfreut, dass ich es lesen kann.

„Ich bin aber kein Nationalist“, sagt er, bevor ich überlegen kann, ob ich ihn das überhaupt fragen will. „Für mich sind alle Menschen gleich. Und hier unten geht es uns gleich schlecht, egal ob wir Serben sind oder Bosnjaken.“

Wo sich ein Višegrader vorkommt wie ein reicher Mann

Sein Lohn in einem Sägewerk in der Umgebung reicht kaum zum Leben, sagt Danijel. Damijan ist arbeitslos.

Wir laden einander auf Runden Jelen und Rakija ein. Die Burschen sind angenehme Gesprächspartner. Und ich bin froh, diesmal nicht auf Naški radebrechen zu müssen.

Danijels halbe Familie ist während des Kriegs und danach ausgewandert, erzählt er mir. Ein Cousin lebt irgendwo in Deutschland und hat eine Art Reisebüro. Den besucht er öfter.

„Da kann ich billig reisen. Ich war schon in vielen Ländern“, sagt er. „Nur nach Amerika, da muss ich noch hin.“

Am besten hat ihm bisher Südostasien gefallen. Vor allem Vietnam. „Dort gibt’s die besten Mädchen. Die kosten wenig Geld und machen alles.“

So genau wollte ich es nicht wissen. Die Vorstellung, dass sich irgendwo auf der Welt sogar ein Mann aus der ärmsten Ecke Bosniens vorkommen kann wie ein reicher Mann, hat etwas Verstörendes. Die Armut in Vietnam muss drückend sein.

Die Band hat aufgehört zu spielen. Der DJ legt Bijelo Dugme auf. Die Gäste beginnen zu tanzen und mitzusingen.

Danijel sagt, er will vielleicht auswandern. Nach Deutschland. Dort gebe es vielleicht Perspektiven. Hier nicht. Damijan stimmt ihm zu.

Es ist halb zwei geworden. Ich verabschiede mich.

Morgen um 8:30 hab ich einen Bus zu besteigen und werde diesen seltsamen traurig-schönen Ort hinter mir lassen, dessen Einwohnern man nur wünschen kann, dass sich andere Perspektiven für sie auftun als Auswanderung oder die Flucht in eine imaginierte Geschichte.

2 Gedanken zu “Wo imaginierte Geschichte Zukunft verspricht

  1. Schöner Artikel über eine traurige Stadt ohne Einheimische. Aber eine Sache: Die Brücke ist schon größtenteils die echte, im Ersten Weltkrieg wurden lediglich drei von elf Bögen zerstört und später wieder aufgebaut.

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