Amokläufe: Ein Blick hinter die Kulissen

Die Amokläufe vorvergangener Woche mit 17 Toten erschüttern nach wie vor die serbische Gesellschaft. Sie haben eine breite Protetsbewegung ausgelöst. Gleichzeitig versucht das Regime, daraus Kapital zu schlagen. Für Balkan Stories ordnet Katharina Hrvacanin die Entwicklungen ein.

Es war eine der größten Tragödien der serbischen Geschichte. Ein 13- Jähriger nahm am 3. Mai zwei Waffen seines Vaters mit in die Schule “Vladislav Ribnikar“ in Beograd und erschoss an diesem Tag 9 Menschen, 8 davon Schüler und einen Hausmeister.

Nicht ein Mal 48 Stunden später schoss ein 21- jähriger aus der Stadt Mladenovac in den Dörfern Malo Orašje und Dubono nahe der Stadt um sich und tötete 8 Menschen, 14 weitere verletzte er. Die Polizei nahm in am Morgen danach nahe Kragujevac fest, nachdem er den Beamten die ganze Nacht enkommen war.

Der Amoklauf an der Schule rief Trittbrettfahrer und Nachahmer auf den Plan. In einem Beograder Gymnasium griff eine ehemalige Schülerin eine Lehrerin und einen ehemaligen Mitschüler mit dem Messer an. Mehrere Schüler, auch in Bosnien, drohten mit Amokläufen.

Diese Eskalation von scheinbar grundloser Gewalt ist in Serbien ein Novum. Bis zum 3. Mai hatte es weder in Serbien noch in seinen Vorgängerstaaten Amokläufe an einer Schule gegeben. Die Bevölkerung ist schockiert und sucht verzweifelt nach Gründen.

Reaktionen aus der Presse und Gesellschaft

Während die Presse schnell vor Ort war, um zu berichten, echauffierten sich einige Menschen über die Berichterstattung der Boulevardpresse. Vor Allem in den Printmedien veröffentlichten reißerische Schlagzeilen, veröffentlichten private Informationen über den 13- jährigen Attentäter. Ein Boulevardblatt berichtete über den Transport der Leichen aus der Schule.

Ähnlich die Berichterstattung um den Attentäter aus Mladenovac.

Dies hatte zur Folge, dass die Bevölkerung den Grund für diese Gewalttaten größtenteils bei den Medien sieht. Grade private Fernsehsender und Boulevardblätter hätten einen schlechten Einfluss auf Jugendliche.

Hier beziehen sich Kritiker deutlich auf Reality Programme, die private Fernsehsender und die Berichterstattung der Boulevardblätter dominieren. Sie seien außerdem durch die Regierung beeinflusst.

Deshalb gab es auch von Anfang an starke Kritik an der Regierung um Aleksandar Vučić. Forderungen nach einem Rücktritt der gesamten Regierung wurden laut. Auch der übermäßige Konsum von Social Media und die generelle serbische Kultur, gefördert durch die Regierung, werden als verantwortlich gesehen. In der Bevölkerung wird von einem generellen Systemversagen gesprochen.

Auch das Thema Mobbing genannt. Einzelne Rufe nach mehr psychologischer Betreuung von Schülern und der allgemeine Aufruf an Eltern, mit ihren Kindern zu sprechen, dringen durch.

Die Fans des Sportclubs Partizan gestalteten anlässlich eines Basketballspiels einen Tag nach dem Amoklauf in der Grundschule ein Banner, auf dem zudem der Aufruf zur Rückkehr zur traditionellen Familie zu sehen war.

Dies macht deutlich, dass ein Teil der Bevölkerung einer vermeintlichen Abkehr vom traditionellen Familienbild als Grund für diese Taten sieht. Andere sehen ihn im patriachalen Gesellschaftssystem in Serbien.

Innerhalb der Bevölkerung werden überall Gründe für die Gewalteskalation gesucht. Seit Montag, den 08.05.2023 kommt es zu Protesten aus der Bevölkerung unter dem Titel „Serbien gegen Gewalt“.

Wie die Regierung die Ereignisse instrumentalisiert

Unmittelbar nach der Tat gab der – mittlerweile zurückgetretene – Bildungsminister Branko Ružić Computerspielen und „dem Westen“ die Hauptschuld am Amoklauf an der Schule.

Dass Serbien laut einigen Statistiken einer der drei Staaten mit den meisten Waffen pro Kopf weltweit ist, ignorierte er.

Eine starke Gegenreaktion der Bevölkerung, die die Probleme anderswo sieht, zwang ihn wenige Tage später zum Rücktritt.

Präsident Aleksandar Vučić äußerte sich in Pressekonferenzen zu dem 13-jährigen Attentäter und enthüllte Informationen über seine Eltern. Außerdem brachte er den Vorschlag ein das Alter der Strafmündigkeit herunterzusetzen.

Während die Regierung nach dem Amoklauf in der Schule über strengere Waffengesetze diskutierte, dabei auch von einer „Entwaffnung“ der Zivilbevölkerung sprach, und eine dreitätige Staatstrauer ausrief, kam es zum Amoklauf um Mladenovac. Daraufhin forderte Vučić, die Todesstrafe wieder einzuführen, was Ministerpräsidentin Ana Brnabić öffentich ablehnte.

Auch die Regierung sucht Gründe für Bluttaten. Auffällig ist, dass immer wieder über den Westen oder die USA als Faktor gesprochen wird.

Dies ist in Anbetracht dessen, dass der Amoklauf in der Schule in einem Viertel passierte, in dem Murals von Kriegsverbrechern unbeschmiert an Hauswänden bleiben, kritisch zu betrachten. (Wenige Tage nach dem Amoklauf übermalten die Bewohner des Stadtviertels ein Wandgemälde von Ratko Mladić, das eineinhalb Jahre nur wenige hundert Meter von der Schule entfernt zu sehen war. Die Übermalung ist wohl auch eine Reaktion auf den Amoklauf. Balkan Stories berichtete.)

Den Amoklauf in den Dörfern um Mladenovac bezeichneten Regierungsvertreter von Beginn an als Terroranschlag. Beweise legten sie nie vor. Medien nutzen den Begriff bis heute.

Indem die Regierung den Amoklauf von Mladenovac als terroristischen Anschlag einordnete, bereitete sie den Boden auf, um Maßnahmen zu fordern, die der Polizei mehr Rechte einräumen.

Ein Beispiel wäre die Erlaubnis von Hausdurchsuchungen ohne Richterbeschluss. Es folgen immer weitere Pressekonferenzen rund um die Themen, wobei sich grade die Ministerpräsidentin stark gegen den Vorwurf des Systemversagens wehrt.

Die Bevölkerung auf der Straße

Einige Tage nach den Gewalttaten rief ein großer Teil der Opposition, bestehend aus mehreren Parteien unterschiedlicher politischer Lager, zu Protesten unter dem Titel „Serbien gegen Gewalt“ am 08. 05. 2023 in Beograd auf. In anderen Städten kam es zu ähnlichen Kundgebungen.

Ihre Hauptforderungen beziehen sich ausschließlich auf Medien und in diesem Zusammenhang auch auf die Regierung. Das ist vor allem, den Privatsendern Pink und Happy die Lizenz zu entziehen.

Damit wird deutlich, dass für die Opposition, aber auch die Gesellschaft, die Schuld bei den Medien und der Regierung liegt.

Am 08. Mai besuchten laut Schätzungen der Polizei circa 50.000 Menschen den Protest in Beograd. Vučić behauptete unterdessen die Zahlen seien ausgedacht, es wären maximal 9.000 Teilnehmer mitgelaufen. Zudem berichteten Boulevardblätter, ähnlich wie bei anderen Protesten, von einem deutlich niedrigeren Teilnehmerzahl.

Die Veranstalter der Demonstrationen kündigten an, weitere Proteste anzumelden, bis die Regierung alle Forderungen übernimmt.

Dass dies passiert, ist jedoch sehr unwahrscheinlich. Von Seiten der Regierung wird die Politisierung der Amoktaten kritisiert, das sei nicht ihr Ziel gewesen. Sie wirft der Opposition eine Instrumentalisierung der Ereignisse vor.

Was wird passieren?

Die auffällige Rhetorik der Regierung und die bereits getroffenen Maßnahmen lassen vermuten, dass die Gewalteskalation in Serbien dazu genutzt wird das Land weiterhin in eine autokratische Richtung zu rücken.

Die Regierung nimmt die Kritik der Opposition an regierungsnahen Medien nicht wahr – oder ignoriert sie -, sodass auf dieser Seite kaum Änderungen zu erwarten sind.

Zwar gab es durch Präsident Vučić Vorwürfe der Politisierung, wobei der Vorwurf an „den Westen“ seitens der Regierung selbst als Politisierung gesehen werden kann, die vermuten lässt, dass Serbien sich vom Westen weg orientieren möchte. Trotzdem ist ein Erstarken der Opposition zu erwarten.

Es gab zwar immer wieder größere regierungskritische Proteste, jedoch nicht in dieser Größe. Außerdem bringt der Zusammenschluss unterschiedlicher politischer Lager in dieser Frage die Regierung weiter unter Druck. Ob dieser Druck ausreicht, um eine ernsthafte Veränderung hervorzubringen, bleibt abzuwarten.

Text: Katharina Hrvacanin

Katharina ist Studentin der Politikwissenschaft. Ihre Bachelorarbeit trägt den Titel: „Die Bewegung der Blockfreien Staaten- Zwischen freiheitlicher Unabhängigkeit und sozialistischem Ideal“. Seit Jänner leuchtet sie für Balkan Stories gelegentlich die Hintergründe historischer und aktueller Ereignisse aus.

Titelfoto: Protest in Beograd, (c) Ne Davimo Beograd

Ein Gedanke zu “Amokläufe: Ein Blick hinter die Kulissen

  1. Zum einen gab es gerade in „traditionellen“ Familien viel Gewalt – die Anekdoten lass ich aus, sie sind zu traurig, allerdings will ich nicht verschweigen, daß es meist mit Alkoholmißbrauch und Traumata der Eltern zu tun hat.

    Ich meine mich zu erinnern, erst 2006 waren in Rijeka Plakataktionen zu sehen, auf denen die Regierung (?) dazu aufrief, seine Kinder nicht zu schlagen …

    Zum anderen muss man allen autoritären, erzkonservativen und sich auf angeblich religiöse oder kulturelle Traditionen berufenden Bewegungen und Einzelpersonen in die Schranken weisen, um es gemässigt auszudrücken.

    Auch hier wieder: Aufklärung, Aufklärung, Aufklärung, sowie Verantwortung übernehmen und alte Traumata bearbeiten, anstatt anderen Staaten oder eh schon unterdrückten Menschengruppen die Schuld an dem zu geben, was innerhalb der eigenen (prinzipiell zweifelhaften) Grenzen an Gewalt, Korruption und Rassismus geschehen lassen wird – und es ändert sich halt nichts, solange man sich mit den eigenen Versäumnissen nicht auseinandersetzen möchte …

    Man kann das natürlich bedenken, daß es Einflüsse „von aussen“ gibt. Aber einfach komplett die eigene Verantwortung von sich weisen ist halt beschränktes Schwarz-Weiss-Denken.

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