Eine Broschüre des Österreichischen Integrationsfonds stellt mit Viertel- bis Halbwahrheiten bosnische Muslime als potentiell islamistisch dar und bläst den zweifellos problematischen saudischen Einfluss in Bosnien zur gezielten Unterwanderung auf. Namhafte Expertinnen und Experten fordern in einem Offenen Brief Aufklärung. Balkan Stories unterstützt die Initiative ausdrücklich.
Es sind Stellen wie diese im Artikel der Schweizer Romanistin Saïda Keller-Messahli im Sammelband „Islam europäischer Prägung“ des Österreichischen Integrationsfonds (ÖIF), die bei österreichischen Balkanexpertinnen- und experten Unruhe auslösen.
In den ersten Jahren nach dem Friedensschluss, der primär dazu diente, Bosnien unter den drei Volksgruppen aufzuteilen und entsprechend neue (Landes-)Grenzen zu ziehen, begannen lokale Islamisten mit dem Aufbau eines internationalen Netzwerkes mit der Absicht, eine Theokratie zu errichten. Ziel sollte sein, die bosnische – und früher oder später freilich jede andere – Gesellschaft der islamischen Gesetzgebung zu unterwerfen. Unterstützung erfuhren sie dabei nicht nur durch ihren eigenen Staatschef Izetbegovic, welcher diese Pläne eifrig vorantrieb, hatte er doch während des Krieges ca. 6.000 Mudschahedin aus dem arabischen Raum sowie Afghanistan, Pakistan und anderen Ländern nach Bosnien geholt. Das Königreich Saudi-Arabien witterte bald großes Potenzial, seine eigene Staatsreligion, den wahhabitischen Islam, von Bosnien aus in andere europäische Länder zu tragen. Dazu bediente und bedient sich das steinreiche Land einer cleveren wie auch perfiden Strategie, indem es Milliarden (!) von Dollars in den Bau von unzähligen Moscheen steckt, die mittlerweile in ganz Europa zu finden sind.
Das sind Viertel- bis bestenfalls Halbwahrheiten, wie der österreichisch-bosnische Journalist und Kommunikationsberater Nedad Memić ausführlich in einem Offenen Brief darlegt, der heute an die Leitung des Integrationsfonds abgeschickt wurde.
Weder vor noch während noch nach dem Bosnienkrieg arbeitete irgendeine offizielle Stelle oder Politik in Bosnien-Herzegowina an der Errichtung einer islamischen Theokratie in diesem europäischen Land. Das wäre auch nach dem Daytoner Friedensabkommen, das Bosnien-Herzegowina als eine Gemeinschaft der muslimischen Bosniaken, christlich-orthodoxen Serben und römisch-katholischen Kroaten sowie allen anderen Bürgerinnen und Bürgern definiert, gar nicht möglich gewesen. Die Autorin spricht auch von „unzähligen Moscheen“, die Saudi-Arabien in Bosnien-Herzegowina finanziert. Das Wort „unzählig“ ruft Konnotationen hervor, als würde sich hier um hunderte, gar tausende neue Gebethäuser handeln. Das ist nicht wahr. In der bosnisch-herzegowinischen Hauptstadt Sarajevo wurden von 1996 (Ende des Krieges) bis heute insgesamt 45 neue Moscheen errichtet. Vor dem Bosnienkrieg standen die meisten Moscheen in der Altstadt von Sarajevo, neue Moscheen wurden daher in bevölkerungsreichen Vorstädten von Neusarajevo errichtet, in denen es in der Kommunismuszeit keine Gebetshäuser gab. Bei einer Moschee davon weiß man mit Sicherheit, dass sie mit dem saudischen Geld errichtet wurde (die König-Fahd-Moschee).
Gleichzeitig ignoriert die Autorin völlig, von beinahe tausend zerstörten Objekten der islamischen Kultur in Bosnien-Herzegowina zu sprechen: Während des Bosnienkrieges wurden mehr als 600 Moscheen auf den Territorien zerstört, die von bosnisch-serbischen und bosnisch-kroatischen Einheiten kontrolliert wurde.
Insgesamt acht problematische Stellen im Kapitel namens „Islam auf dem Balkan – ein historischer Überblick bis hin zur Gegenwart“ listet der Offene Brief auf – und es sind nur die schwersten Ungereimtheiten, die hier angesprochen werden.
Das Schreiben wurde von namhaften Balkanexpertinnen- und experten und Journalistinnen und Journalisten unterzeichnet, unter anderem von Valeria Heuberger (Österreichische Akademie der Wissenschaften), Florian Bieber (Karl-Franzens-Universität Graz) und Damir Saračević (VHS Oberösterreich).
Was qualifiziert Saïda Keller-Messahli dazu, dieses Kapitel zu schreiben?
Saïda Keller-Messahli, Autorin des zu Recht kritisierten Kapitels, hat sich offensichtlich nicht mit der Geschichte Bosniens befasst und von der Geschichte des Islam in Bosnien versteht sich auch nicht viel.
Saïda Keller-Messahli ist nicht mal Historikerin. Sie hat Romanistik, Literatur- und Filmwissenschaften studiert und trat bislang auch nicht mit geschichtswissenschaftlichen Publikationen in Erscheinung.
Saïda Keller-Messahli kann offenbar auch die Sprache ohne Namen nicht. Sie ist gebürtige Tunesierin, die in der Schweiz aufgewachsen ist.
Was die Frage aufwirft, warum sie eingeladen wurde, ein Kapitel zur ÖIF-Broschüre beizusteuern.
Diese Frage kann auch Franziska Micheler, Kommunikationschefin des ÖIF, in einem Antwortschreiben an Medien nicht klären.
Der Sammelband solle unterschiedlichen Denkanstöße und Perspektiven zur Entwicklung eines liberalen Islam europäischer Prägung von Wissenschaftern und Praktikern Raum geben.
„So beleuchten renommierte Wissenschafter/innen (…) wie Prof. Mouhanad Khorchide, Prof. Zekirija Sejdini, Prof. Katharina Pabel und Prof. Christian Stadler als auch Praktiker/innen wie die Rechtsanwältin und Frauenrechtlerin Seyran Ateş und Saïda Keller-Messahli (Gründerin des Forums für einen fortschrittlichen Islam sowie Preisträgerin des Schweizer Menschenrechtspreises 2016) aus ihren jeweiligen Perspektiven Herausforderungen bei der Integration von Muslim/innen und zentrale Fragen zur Entwicklung eines Islam europäischer Prägung.“
So weit, so abstrakt, so entlarvend.
Die Schweiz gilt gemeinhin nicht als das klassische Balkanland
Man streicht gleich mal angebliche Herausforderungen bei der „Integration“ von Muslimen heraus.
Als ob tatsächliche oder vermeintliche Muslime eine homogene Gruppe wären oder tatsächliche oder vermeintliche Muslime vorwiegend wegen ihrer Religion nur unter tatsächlichen oder vermeintlichen Herausforderungen „integriert“ werden könnten.
Die Frage, wie diese tatsächlichen oder vermeintlichen Herausforderungen bewältigt werden können, wenn ein einziges Kapitel in dem Sammelband, der ebendiese tatsächlichen oder vermeintlichen Herausforderungen skizzieren soll, nicht weniger als acht Stellen enthält, die vor Fehlinformationen, Pauschalurteilen, Übertreibungen und nicht belegten Unterstellungen nur so strotzen, bleibt unbeantwortet.
Auch keine Antwort gibt es auf die Frage, ob irgendjemand geprüft hat, ob die Artikel im Sammelband auch inhaltlich richtig sind.
Die Autorin selbst vermag diese Frage ebensowenig zu beantworten. Auf die Frage, was sie zu dem Artikel qualifiziere, antwortet sie gegenüber Medien, sie setze sich seit Jahrzehnten mit dem Islam auseinander.
Für diesen Beitrag habe sie auf Arbeiten für ein früheres Buch zurückgegriffen. Dessen Titel: „Islamistische Drehscheibe Schweiz“.
Die Schweiz gilt gemeinhin nicht als das klassische Balkanland.
Negative Reaktionen aus Bosnien und der Schweiz
Auch in Bosnien löst die Broschüre des ÖIF mittlerweile Besorgnis aus, wie Adelheid Wölfl in einer Reportage dokumentiert.
Auch in der Schweiz schlagen Keller-Messahlis Auslassungen Wellen. Der Tagesanzeiger nimmt sie auseinander und kommt zum Schluss: Als Historikerin ist die Frau durchgefallen.
Der Artikel bediene serbisch-nationalistische Sichtweisen, Keller-Messahli sei ganz offensichtlich keine Historikern und habe keine Ahnung vom Thema.
Zum Renommee des ÖIF wird der Artikel vermutlich wenig beitragen.
Auch die Kritik im Offenen Brief namhafter Experten ist deutlich.
Aus wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Gründen fordern wir Sie daher auf, diesen Text aus dem Sammelband herauszunehmen und eine kompetente Expertin oder einen kompetenten Experten zu beauftragen, sich mit dem durchaus komplexen Thema auseinander zu setzen.
Wir freuen uns auf ihre Antwort auf diese Fragen und haben von dieser Angelegenheit bereits Medien und alle Parteien im österreichischen Nationalrat benachrichtigt.
Wir fordern Aufklärung
Balkan Stories schließt sich diesem Aufruf ausdrücklich an.
Wir fordern Aufklärung, warum eine offensichtlich nicht qualifizierte Autorin eingeladen wurde, ein Kapitel über den Islam am Balkan zu schreiben.
Und warum niemand auf die Idee gekommen ist, die Informationen in diesem Artikel zu überprüfen.
Den gesamten Offenen Brief gibt es hier zum Nachlesen.