Die Möwe aus dem Zwischenreich

Brčko ist Bosniens letzte wirklich gemischte Stadt. Im chronischen Drahtseilakt der beiden ethnisch dominierten Teilstaaten nimmt die Stadt an der Sava eine Sonderrolle ein. Die scheint ihr nicht zum Nachteil zu gereichen. Der schwierigen Geschichte zum Trotz. Reportage.

Freunde werden sie nicht mehr, die Alteingesessenen von Brčko und der Eigentümer des größten und angeblich besten Hotels der Stadt. Es liegt am Bulevar Mira, am Boulevard des Friedens, vielleicht 200 Meter vom Grenzübergang nach Kroatien an der Sava-Brücke.

In jugoslawischen Zeiten war es ein selbstverwalteter Musterbetrieb und hieß Hotel Galeb.

Dass der Eigentümer das Hotel kaufte, als es nach dem Krieg privatisiert wurde, könnten ihm die gebürtigen Brčaci wahrscheinlich noch verzeihen. Dass er es nach seiner Tochter benannt hat, nicht mehr.

Nicht, dass jemand etwas gegen Jelena hätte. Nur, der neue Name reißt Wunden auf.

Im Krieg vergewaltigten Angehörige serbischer Milizen im Hotel Galeb Bosnjakinnen und Kroatinnen.

Jelena ist ein vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, serbischer Name. Angesichts der Geschichte des Gebäudes vielleicht nicht die sensibelste Namenswahl.

Nicht das einzige Problem, das viele alteingesessene Brčaci unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit mit dem neuen Namen haben. Dass neue Eigentümer alten Betrieben einfach irgendwelche Namen geben, empfindet man als unzivilisierte Triumphgeste derer, die sich in den 90-ern und frühen 2000-ern die Filetstücke im kriegsgebeutelten Land sicherten – oder als Ausdruck mangelnder Kultur und Bildung, oder beides.

„Für uns wird es immer Hotel Galeb heißen“, sagt eine Freundin, die in der Stadt geboren wurde. Mit ihr halten es viele der Alteingesessenen.

„Keiner hat angegriffen“

Noch ein Umstand trübt das Verhältnis vor allem der muslimischen und katholischen Stadtbewohner zum neuen Hoteleigentümer. Einer, für den er wenig kann, aber gegen den er auch wenig tut.

In einem kleinen Park gleich neben dem Hotel steht ein Denkmal für die gefallenen Soldaten serbischer Milizen und der Armee der Republika Srpska im Krieg.

Um die Ecke, vor dem Rathaus, stehen das Denkmal für die gefallenen Soldaten der bosnischen Armee und das Denkmal für die Gefallenen der HVO, der kroatischen Milizen im Bosnienkrieg.

„Drei Denkmäler für drei Seiten. Und jede Seite hat nur verteidigt. Keine hat angegriffen“, kommentiert Zoran (Name geändert, Anm.) sarkastisch.

Zorans Geschichte

In unserem langen Gespräch spricht Zoran von sich immer nur als orthodoxer Bosnier. Er verwendet nie das Wort Serbe.

Zoran war im Krieg. Wahrscheinlich als Soldat der Republika Srpska. Ich frage nicht nach.

„Damals hat man uns gesagt, wir müssen unsere Heimat und unser Land verteidigen. Ich war jung und hab das geglaubt. Ich sag dir was: Wir haben für ein paar Leute gekämpft, die sich die Taschen vollgeräumt haben. Wenn mir heute jemand sagt: Kämpf für dein Land, mach ich nicht mehr mit.“

Zoran ist keiner der alten Brčaci. Bis vor wenigen Jahren lebte er in einer kleineren zentralbosnischen Stadt. Seit dem Abkommen von Dayton ist diese Stadt fast rein bosnjakisch.

Die meisten Städte in Bosnien sind heute mehr oder weniger „ethnisch rein“. Die jeweils größte Gruppe stellt meist 80 oder gar mehr als 90 Prozent der Bevölkerung.

Wo das nicht der Fall ist, lebt die jeweils kleinere Ethnie häufig in eigenen Vierteln wie in West-Mostar.

Das gilt für beide bosnische Teilstaaten, die bosnjakisch-kroatisch dominierte Federacija und die serbisch dominierte Republika Srpska. Ausnahmen sind lediglich ein paar mehrheitlich kroatische Städte wie Jajce oder Stolac, und Sarajevo und eben Brčko.

Das bosnische Zwischenreich

Brčko gehört keinem der zwei bosnischen Teilstaaten. Es ist ein Konstrukt für sich, unterstellt einzig der bosnischen Nationalregierung und dem Hohen Repräsentanten, und de facto selbstverwaltet.

Das hat mit der strategischen Lage der Stadt zu tun. Sie liegt in einem nur wenige Kilometer breiten Korridor, der den nördlichen und den südlichen Teil der Republika Srpska miteinander verbindet, direkt an der kroatischen und nur unweit der serbischen Grenze.

Beide Teilstaaten wollten diesen Landstreifen kontrollieren, und noch Jahre nach dem Friedensabkommen von Dayton war es keineswegs sicher, ob Brčko nicht doch dem einen oder dem anderen Teilstaat zugeschlagen würde. Erst im Jahr 2000 verzichteten Federacija und Republika Srpska auf ihre Ansprüche.

Die meisten Vertriebenen kehrten zurück

Hier sind die meisten zurückgekehrt, die vom Krieg geflohen oder vertrieben worden waren –ungefähr die Hälfte der Bevölkerung war das, etwas mehr als 20.000 Menschen. Das waren vorwiegend Bosnjaken und Kroaten.

Sie sind geblieben.

Das ist anders als praktisch im gesamten Rest des Landes, ausgenommen Sarajevo.

Fast überall sonst kommt es seit Kriegsende zu etwas, das man als kalte ethnische Säuberung beschreiben kann.

Warum Zoran nach Brčko zog

Irgendeinem Nachbarn gefällt dein Vorname nicht, oder die Tatsache, dass du Bajram feierst, oder dass du Schweinefleisch isst. Er wird dir zu verstehen geben, wer in dieser Gemeinde das Sagen hat, und, dass du als Bosnjake, Kroate oder Serbe nicht dazugehörst.

Oft schauen die Behörden weg. Die meisten anderen Nachbarn ebenso.

„Ich konnte in meiner Heimatstadt nicht mehr leben“, erzählt Zoran. „Für mich als orthodoxer Bosnier war dort kein Platz mehr, und für meine Familie auch nicht.“

Er ging nach Brčko.

Banja Luka, der Regierungssitz der Republika Srpska, kam für Zoran nie in Betracht. Die dortigen Machthaber sind für ihn vom gleichen Schlag wie die, die zuließen, dass er sich in seiner Heimat nicht mehr wohlfühlt.

Auch nach Sarajevo zog es ihn nicht. „Ich bin gern dort“, sagt Zoran, „aber die Stadt ist mir einfach zu groß.“

Dass es Brčko wurde, liegt wahrscheinlich nicht nur daran, dass die Stadt sich als einzige in Bosnien jeglicher ethnischer bzw. religiöser Zuordnung entzieht.

Im bosnischen Zwischenreich gibt es auch bessere wirtschaftliche Perspektiven für seine Einwohner als in den meisten anderen Regionen.

Hier gibt es alles doppelt

Das hat sehr viel mit dem Status der Stadt und ihres Umlandes zu tun.

Es gibt hier alles doppelt.

Die Federacija hat hier ihre Post, die Republika Srpska ebenso. Die Lotterie der Federacija hat hier eine Außenstelle, die der Republika Srpska muss auch eine betreiben.

BHT hat hier ein großes Büro samt Kundenzentrale. MTel darf nicht fehlen.

Dazu kommen so viele politische Jobs wie in wahrscheinlich keiner anderen 40.000 Einwohner-Stadt Europas.

Jede politische Partei, die in Bosnien auf teilstaatlicher Ebene kandidiert, hat hier zumindest ein kleines Büro. Auch die größten nationalistischen Parteien, die SDA, die SNSD und die HDZ (BiH), dazu etliche kleinere nationalistische Parteien und die paar vergleichsweise normalen Parteien, die es im Land gibt, wie die SDP und die Naša stranka.

Man findet hier sogar Wahlplakate für Umlandgemeinden, die in der angrenzenden Republika Srpska liegen.

Das ist gleichsam Bosnien unterm Mikroskop.

Dass Brčko eine selbstverwaltete Region zwischen den Teilstaaten ist, beschert der Stadt darüber hinaus Niederlassungen der EU und anderer internationaler Organisationen.

Diese Konzentration an mehrheitlich gut bezahlten öffentlichen oder quasi öffentlichen Stellen wirkt nicht nur für Außenstehende bizarr – und sichert Brčko gleichzeitig einiges an Kaufkraft und Wohlstand.

Das zeigt sich im Stadtbild. So schön renoviert sind nur wenige Stadtzentren in Bosnien.

Dass es den Menschen hier vergleichsweise gut geht, ist sicher auch ein Mitgrund, warum hier vergleichsweise wenige ethnisch bzw. religiös aufgeladene Spannungen zwischen Vertretern der Bevölkerungsgruppen gibt.

Zeitweise stellte hier sogar die kroatische klerikalnationalistische HDZ den Bürgermeister, ohne, dass es größeren Schaden angerichtet hätte.

So bleibt Brčko Bosniens letzte wirklich gemischte Stadt.

Hier leben jeweils etwas mehr als 40 Prozent Serben und Bosnjaken, der Rest sind in der Regel Kroaten, dazu kommen Angehörige kleinerer Minderheiten.

Auch hier wandern viele Menschen ab. Aber anders als in den meisten anderen Städten und Regionen Bosniens bleibt die Bevölkerungszahl dank der Zuwanderung aus anderen Landesteilen stabil.

Und anders als sonst in Bosnien, mit Ausnahme Sarajevos, sind es nicht nur Angehörige einer Gruppe, die hier neu zuziehen.

Wer nicht dazugehört

In der Auslage einer Apotheke gegenüber der Post der Republika Srpska sind die Fotos der heurigen Maturanten zu sehen.

Fotogalerien mit Maturanten oder Absolventen höherer Schulen sind in diesem Teil der Welt gang und gebe. Meist werden sie in Versicherungen oder Apotheken aufgehängt- oder gestellt.

Man feiert die jungen Menschen für ihre Leistung – auch im Wissen, dass ein großer Teil von ihnen in den nächsten Jahren nach Deutschland oder Österreich auswandern wird.

Zwei Roma-Kinder betrachten die Fotos neugierig.

Die Chancen der Geschwister stehen schlecht, dass ihre Fotos jemals in einer Apotheke oder in einem anderen Geschäft zu sehen sind.

Bosnjaken, Serben, Kroaten, alle mögen hier willkommen sein, allen mag hier eine Chance auf ein besseres oder zumindest einigermaßen normales Leben offenstehen.

Roma werden auch in dieser Stadt an den Rand gedrängt. Genauso wie in Sarajevo oder Banja Luka. Oder wie in Beograd und Zagreb, von Prishtina ganz zu schweigen.

Die Diskriminierung von Roma zu beenden, wird nur mit langfristigen Programmen gelingen und mit Gesetzen, die sie und Angehörige anderer kleiner Minderheiten wirksam vor Benachteiligungen und Schlimmerem schützen.

Das kann das bosnische Zwischenreich nicht alleine verfügen – vorausgesetzt, es wollte.

Dazu braucht es eine gesamtstaatliche gesetzliche Grundlage.

Die Voraussetzungen sind alles andere als gegeben. Beide Teilstaaten und der Gesamtstaat tolerieren stillschweigend, dass Angehörige der drei konstituierenden Ethnien bis heute täglich kalt vertrieben werden. Angehörige kleinerer Minderheiten sind ihnen erst recht kein Anliegen.

Auch hier ist Brčko Gesamtbosnien unterm Mikroskop.

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