„210 Euro Mindestlohn sind Politik zu viel“

Sozialabbau, weniger Kollektivverträge, weniger Lohn und weniger Rechte. Das hat die sich selbst als wirtschaftsfreundlich bezeichnende Politik in Bosnien auf internationalen Druck den Menschen gebracht, die von ihrer Arbeit leben müssen. Einer, der gegen diese Politik kämpft, ist Selvedin Šatorović, Vizepräsident des Dachverbands der Gewerkschaften in der Federacija, im bosnisch-kroatischen Teilstaats Bosnien. Balkan Stories hat mit ihm gesprochen.

„Die Regierung hält 210 Euro Mindestlohn im Monat für gefährlich für die bosnische Gesellschaft“. So beschreibt Selvedin Šatorović die Haltung der bosnischen Politik gegenüber Arbeitnehmern.

Er ist Vorsitzender der Lehrergewerkschaft der Federacija und Vizepräsident des Dachverbands der Gewerkschaften in der Federacija.

An dieser Haltung ist zuletzt ein landesweiter Rahmenkollektivvertrag gescheitert, auf den sich Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände geeinigt hatten.

Im letzten Moment sprang die Regierung ab. Die 210 Euro Mindestlohn waren der politischen Elite zu viel, beschreibt Selvedin.

„Die haben argumentiert, dass das internationale Investoren abschreckt“, sagt er. Die Wirtschaftspolitik laufe offenbar darauf hinaus, Bosnien zu einer verlängerten Werkbank für internationale Konzerne zu machen – ähnlich wie es in Serbien passiert.

Offenbar sehen die verantwortlichen Politiker der bosnischen Teilstaaten Federacija und Republika Srpska ihr Land selbst als Peripherie.

In beiden Teilstaaten sind mit der SDA und der SNSD nationalistische Parteien an der Macht.

„Regierung tut mehr, als Arbeitgeber fordern“

Investoren seien nur mit Billiglöhnen anzulocken, die man zur Not auch drücken könne, lautet offenbar ihr Credo. Zumindest, wenn man die Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre betrachtet.

So werde man an den Rand gedrängt, kritisiert Selvedin. „Wir sehen uns aber als Teil Europas, als Teil des Westens. Wir wollen die Situation hier verbessern und nicht noch weiter nach unten drücken.“

Der Kampf der Politik gegen einen flächendeckenden Mindestlohn übertreffe sogar die Erwartungen von Unternehmern. „Ich habe am Rande von Verhandlungen mit einem Unternehmer gesprochen, der auch im Arbeitgeberverband sitzt, nachdem die Regierung vom Mindestlohn abgesprungen war. Der hat zu mir gesagt: Die machen ja mehr, als wir wollen.“

Als stünde eine Mauer im Park

Diese Episode markiert den endgültigen Bruch mit früheren Zeiten, mit dem starken Einfluss der Gewerkschaften im untergegangenen Jugoslawien, die mit dem Machtapparat verwoben waren.

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Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man den Bruch leicht übersehen.

Selvedins Büro ist im Dom Sindikata, im Gewerkschaftshaus im Stadtzentrum von Sarajevo. Keine 50 Meter weiter ist der Sitz der Präsidentschaft, eines Drei-Personen-Gremiums.

Wäre nicht das Staatsarchiv an der Rückseite der Präsidentschaft dazwischen, der Gewerkschaftspräsident und der amtierende Staatspräsident könnten einander jeden Morgen über den Park zuwinken, der zwischen den Gebäuden liegt.

Das war seit dem Zweiten Weltkrieg so, unterbrochen nur durch den Krieg.

So nah an der Macht, auch geographisch, war Gewerkschaft nirgens sonst in der Welt. Selbst in Beograd ist der Abstand zwischen Gewerkschaft und dem Sitz der Staatsmacht größer als hier.

Heute könnte genausogut eine Mauer die beiden Einrichtungen voneinander abschotten.

50 Prozent aller Kollektivverträge gekündigt

Die Entfremdung hat sich in den vergangenen zwei Jahren beschleunigt.

2015 beschlossen die Parlamente der zwei Teilstaaten ein neues Arbeitsrecht. „Vor allem die Briten und die Deutschen haben Druck dafür gemacht.“

Die „Reformen“ waren Bedingung für internationale Kredite für das finanziell stets klamme Bosnien.

Sie reduzierten den Kündigungsschutz drastisch, führten zu einer Kürzung der Sozialabgaben und schwächten die Kollektivvertragsautonomie der Gewerkschaften.

„Seit der Reform sind ungefähr 50 Prozent der Kollektivverträge aufgehoben worden.“
Selvedin Šatorović .

Den Beschäftigten brachte das niedrigere Löhne.

Der Rahmenkollektivvertrag hätte die schlimmsten Auswirkungen mildern sollen und wenigstens einen landesweiten Mindestlohn einführen. Einen, der mit 210 Euro ohnehin am offiziellen Existenzminimum in Bosnien liegt und weit unter dem realen.

Nachdem der öffentliche Sektor abgesprungen ist und die Vereinbarung nur von privaten Arbeitgebern und Gewerkschaften unterschrieben wurde, ist unklar, ob sie flächendeckend gilt oder ob der öffentliche Sektor ausgenommen ist.

Das deutsche Arbeitsrecht war nicht hart genug

Die Gewerkschaftsdachverbände der zwei Teilstaaten versuchten damals, die Arbeitsrechtsreform in letzter Sekunde zu kippen. „Wir haben einen Entwurf für ein neues Arbeitsrecht eingebracht, bei dem Bosnien praktisch das deutsche Arbeitsrecht übernommen hätte.“

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Nicht einmal das war IWF und der deutschen beziehungsweise britischen Regierung genug.

Nicht nur bei den Löhnen spüren die Arbeiter und Angestellten in Bosnien den Druck, den das neue als Liberalisierung gefeierte Gesetz brachte.

Gewerkschaften werden behindert, nächste Verschlechterung in Planung

„Viele Arbeitgeber verstoßen gegen das neue Arbeitsrecht“, schildert Selvedin. Viele müssen zu lange arbeiten, Überstunden werden nicht bezahlt, oft auch kein kollektivvertraglicher Mindestlohn.

Arbeitgeber behindern oder verbieten Gewerkschaften und Personalvertretungen. Wer für die Gewerkschaft aktiv ist, riskiert seinen Arbeitsplatz.

Das ist illegal, kümmert aber weder Behörden noch Unternehmer.

„Natürlich machen das nicht alle“, sagt Selvedin. „Aber es zieht sich quer durch die Branchen und es macht auch keinen Unterschied, ob es ausländische oder einheimische Unternehmen sind.“

Die nächste Verschlechterung ist in Planung. Die Regierung der Federacija hat vor, auch den Essens- und Fahrtzuschuss zu besteuern, den bosnische Arbeitnehmer seit jugoslawischen Zeiten steuerfrei bekommen.

„Das würde die Realeinkommen natürlich weiter senken“, kritisiert Selvedin.

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Lehrergewerkschafterin Sanela Halać übersetzt das Gespräch.

Hohe Arbeitslosigkeit schwächt Verhandlungsposition

Gebracht haben die Reformen wenig, wie von Kritikern vorausgesagt. „Anders als die anderen Staaten Ex-Jugoslawiens haben wir seit der Wirtschaftskrise 2007 und 2008 keinen Wirtschaftsaufschwung erlebt“, sagt der stellvertretende Gewerkschaftsvorsitzende.

Es lässt sich auch nicht plausibel nachweisen, dass das neue Arbeitsrecht neue Arbeitsplätze hätte entstehen lassen.

Es sind heute weniger Menschen arbeitslos als Ende 2016. Aber das kann genauso gut mit Emigration erklärt werden. 30- bis 40.000 Bosnier verlassen jährlich das Land.

Knapp eine halbe Million Menschen hat offiziell keinen Arbeitsplatz. Dem gegenüber stehen offiziell nur knapp 800.000 Beschäftigte.

Um die 60 Prozent aller 15 bis 24-Jährigen sind arbeitslos. Das ist die höchste Jugendarbeitslosigkeit der Welt.

Die hohe Arbeitslosigkeit schwächt Gewerkschaften und Beschäftigte Land zusätzlich. Wer Arbeit hat, ist froh, sie nicht zu verlieren.

„Streiks und Proteste gegen Missstände und Kürzungen sind fast nur im öffentlichen Sektor wirksam“, sagt Selvedin. „Im privaten Sektor verpuffen sie häufig“.

Was auch daran liegt, dass der Organisationsgrad im öffentlichen Sektor sehr hoch ist. In der Privatwirtschaft ist er niedrig.

Dass sich gerade in Bosnien so wenig Widerstand regt, liegt nach Meinung vieler Beobachter auch an der Emigration. Vor allem die gut Gebildeten und Engagierten verlassen das Land.

Die Angst vor dem Krieg ist da – und wird ausgenutzt

„Heute sind in Bosnien gerade genug kritische Aktivisten, um die Misere mit sozialem Engagement erträglicher zu machen“, schildert ein Beobachter. „Um ein kritisches Potential aufzubauen, an dem sich erfolgreiche Proteste entzünden können, sind sie zu wenige.“

Ich konfrontiere Selvedin mit dieser These.

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„Deine Freunde haben halb Recht“, sagt er. „Das ist sicher ein Problem. Übrigens nicht nur für uns. Wenn die Leute nach Deutschland oder Österreich gehen, üben sie dort auch Druck auf den Arbeitsmarkt auf, was dazu benutzt wird, um soziale Standards aufzuweichen.“

Nur würden hier auch die Erfahrungen aus dem Krieg und eine Politik der Angst die Lage verschlimmern. „Die Menschen haben mit der großen Friedensdemonstration 1991 und den erfolglosen Protesten 2014 die Erfahrung gemacht, dass Proteste sinnlos sind. Und man sagt ihnen auch ständig: Geht nicht auf die Straße, sonst gibt es wieder Krieg.“

Wo bleibt die internationale Solidarität?

Hier bräuchten Arbeitnehmer wie Gewerkschaften Unterstützung von außen. Die könnte großzügiger sein, sagt auch Selvedin.

„Wir haben von anderen europäischen Gewerkschaften im Konflikt um das neue Arbeitsrecht einiges an deklamatorischer Unterstützung bekommen. Das hätte mehr sein können“, drückt er sich wahrscheinlich diplomatisch aus.

Die internationalem Solidarität scheint stark verbesserungswürdig zu sein. Die Gewerkschaften in den meisten europäischen Staaten versuchen so sehr, Verschlechterungen im eigenen Land zu verhindern oder abzumildern, dass sie den Blick schon für die Vorgänge im Nachbarland verlieren.

Für das, was an der politischen und ökonomischen Peripherie Europas passiert, hat man keine Aufmerksamkeit mehr.

So fällt seit Jahren Arbeitsrecht und Arbeitsrecht in Europa. In den ehemaligen kommunistischen Staaten noch radikaler als anderswo und immer zuerst.

Fast, als sei die Peripherie das Experimentierfeld für soziale Verschlechterungen.

Da überrascht es vielleicht weniger, dass sich die Gesetzesänderungen, die der französische Präsident Emmanuel Macron plant, beinahe wie eine Kopie der „Reformen“ in Bosnien lesen.

„Wir lassen uns nicht gegeneinander ausspielen“

Auf eines können sich bosnische Gewerkschafter verlassen: Auf die inner-bosnische Solidarität.

Das ist bei der strikten Zweiteilung des Landes in zwei gleichberechtigte autonome Teilstaaten und einer besseren Häuserverwaltung als Zentralregierung alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

Organisatorisch haben auch die Gewerkschaften die Zweiteilung nachvollziehen müssen. Es gibt Fachgewerkschaften und je einen Dachverband für die bosnjakisch-kroatische Federacija und die Republika Srpska und eine Koordinierungsstelle für die Dachverbände.

„Aber wir Gewerkschafter und Arbeiter wissen sehr genau: Was in der Federacija passiert, wird kurz über lang auch in der Republika Srpska passieren und umgekehrt“, schildert Selvedin die Zusammenarbeit.

„Wir kämpfen für eine gemeinsame Sache und bei uns gibt es wirklich kein Problem mit Nationalismus. Wir lassen uns nicht gegeneinander ausspielen.“
Selvedin Šatorović

Und: „Wenn die Regierungen der Teilstaaten nur zehn Prozent von dem Ausmaß kooperieren würden wie wir Gewerkschaften es machen, würde das Land gleich ganz anders aussehen.“

Ein ausdrückliches Dankeschön an Gewerkschafterin Sanela Halać von der bosnischen Lehrergewerkschaft. Meine Kenntnisse der Sprache ohne Namen reichen leider für ein derart komplexes Gespräch nicht aus. Sanela war für dieses ausführliche Interview Übersetzerin. Sie hat das ehrenamtlich gemacht. Sanela ist hauptberuflich Englischlehrerin in Sarajevo und engagiert sich in ihrer Freizeit für die Rechte ihrer Kolleginnen und Kollegen.

Ein Dankeschön auch an Amela Muratović vom ÖGB. Ihre Kontakte haben dieses Interview für Balkan Stories ermöglicht.

 

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