Mein Balkan-Lesesommer

Der Sommer ist halb um. Ein paar Lesetipps für Spät-Urlauber. Oder Menschen, die nach dem Urlaub noch mal im Kopf verreisen wollen. Diese Bücher haben meinen Sommer verschönt und sollten in keinem Reisegepäck fehlen.

Nachthimmel

Der Trost des Nachthimmels

Dževad Karahasan in Hochform. Alles andere würde dem „Trost des Nachthimmels“ wohl nicht gerecht werden.

Der in Graz und Sarajevo lebende Autor entführt den Leser ins mittelalterliche Persien, genauer gesagt nach Isfahan im Seldschuken-Reich. Omar Chayyam ist Hofastronom und eine Art Universalgelehrter. Er muss in einem Mordfall ermitteln.

Omar gerät in die Fallstricke einer streng hierarchischen Gesellschaft, die nach außen strikt nach den Regeln des Islam lebt und seiner eigenen Gefühle.

Er erlebt religiöse Heuchlerei, religiösen Fanatismus, Krieg, Flucht und Elend. Das Ende dieser Reise, so viel sei verraten, hat auch mit Karahasans Heimat zu tun. Und der Epilog erreicht vor der Tragik des Bosnien-Kriegs geradezu Eco’sche Dimensionen.

Auch wenn dieser im bosnischen Original in drei Teilen erschienene Roman überall großartiger Lesestoff ist: Nichts schlägt Sarajevo als Ambiente, wenn man sich in Karahasans Vorstellungswelt verliert.

Dzevad Karahasan: „Der Trost des Nachthimmels“, aus dem Bosnischen übersetzt von Katharina Wolf-Grießhaber, Suhrkamp, 724 Seiten, 27,70 Euro.

ArchivArchiv der toten Seelen

Aleš Šteger gilt als der bekannteste slowenische Autor seiner Generation. Mit „Archiv der toten Seelen“ legt der Lyriker einen interessanten und lesenswerten Erstlingsroman vor, der Anfang des Jahres auch ins Deutsche übersetzt wurde.

Es ist 2012 und Štegers Heimatstadt Maribor ist soeben Europäische Kulturhauptstadt geworden. Nach langen Jahren kehrt Adam Bely, ehemaliger Dramaturg, der ohne Theater nicht leben konnte, zurück in einen Karneval der Korruption und der Weltverschwörung, in dem die oben sind, die es sich in den Goldgräberjahren nach dem Zusammenbruch des Titoismus und der slowenischen Unabhängigkeit richten konnten.

Die zu beseitigen hat er sich zur Aufgabe gemacht und wird unterstützt von der mysteriösen Rosa Portero. Mit ihr verbindet ihn ein seltsames Schicksal.

Belys Mission hetzt den Leser durch Maribors Eigenheiten und die jüngere europäische Sektengeschichte, ironisch versetzt mit Trash aus Abenteuer- und Fantasy-Groschenliteratur. Der Autor selbst gönnt sich den einen oder anderen Cameo-Auftritt.

Ein kluges Lesevergnügen mit viel Lokalkolorit. Und ohne Štegers Originalität schmälern zu wollen: Hier hat Umberto Eco Pate gestanden. Er wäre stolz gewesen.

Aleš Šteger: „Archiv der toten Seelen“, aus dem Slowenischen von Matthias Göritz, Schöffling und Co, 336 Seiten, 22,95 Euro.

Tito_RomanTito, amor mijo

Dieser Roman schildert das Leben der slowenischen Minderheit in der Region Triest in den 1960-ern aus der Sicht eines zehnjährigen Buben. Slowenisch spricht man besser nur zuhause, auch wenn es in der Schule Slowenischunterricht gibt. Wobei die Lehrerin ein eher tragisches Ende nimmt.

Das Buch verbindet mehrere Erzählungen, die das Leben der Minderheit plastisch machen und den historischen Kontext herstellen. Dem Krieg entkommt man auch 20 Jahre nach seinem Ende nicht. Die Wunden scheinen kaum vernarbt und vor lauter Eiter kann von Heilung keine Rede sein. Zu frisch sind die Erinnerungen an die Zwangsitalienisierung durch die Faschisten. Zudem spaltet das Verhältnis zum Faschismus die jugoslawische Community in Triest.

Dazu kommen die manchmal liebenswerten, manchmal weniger liebenswerten, Eigenheiten der Protagonisten. Eine Mutter, die davon träumt, einmal mit der Queen Tee zu trinken und für Tito zu singen. Eine Tante, die dauernd in Ohnmacht fällt und einer unerfüllten Liebe nachtrauert. Eine Großmutter mit einer Kugel im Hals. Ein Vater, der kaum schafft, die Schulden für das auseinanderfallende Haus zu bedienen. Der Chef der Mutter, der nur nach außen treuer Titoist ist.

Marko Sosičs Roman verarbeitet viele autobiographische Elemente. Er wurde 1958 in Triest geboren und zog zum Studium ins damalige Jugoslawien, nach Zagreb. Er machte sich vor allem als Dramaturg einen Namen, bislang hat er sechs Romane veröffentlicht. „Tito, amor mijo“ erschien schon 2005 auf Slowenisch. Erst 2016 kam die deutsche Übersetzung heraus.

Marko Sosič: Tito, amor mijo, aus dem Slowenischen von Ann Catrin Bolton, Drava Verlag, 190 Seiten, 19,80 Euro.

41oAfCzkQpLDas Haus des Erinnerns und des Vergessens

Diesem doppelten Erstlingswerk hat Balkan Stories schon eine ausführliche Rezension gewidmet.

In diesem Roam greift der bekannte serbische Dramaturg Filip David das verdrängte Kapitel des Holocaust in Serbien auf – jener Judenvernichtung, die im selbst verwalteten Rumpf-Serbien von Serben selbst begangen wurde.

Es ist das erste Werk Filip Davids, das auf Deutsch erscheint. Und es ist das erste Werk, das der österreichische Botschafter in Beograd, Johannes Eigner, aus dem Serbischen übersetzt hat.

Der Roman ist nicht nur wegen des historischen Kontexts und der gelungenen Übersetzung lesenswert. Filip David wirft in dem Werk grundlegende Fragen der menschlichen Existenz auf: Wie wir mit Schuld und Schmerz umgehen. Und ob wir das Recht haben, zu vergessen.

Filip David: Das Haus des Erinnerns und des Vergessens, aus dem Serbischen von Johannes Eigner, Wieser Verlag, 195 Seiten, 21 Euro.

the_memoirs_of_jesus-vuk_draskovic_vThe Memoirs of Jesus

Es gibt Autoren, bei denen man froh ist, wenn die bosnischen Zöllner seine Bücher nicht aus dem Paket entfernen, das man sich selbst nachhause schickt, um nicht vier Kilo Bücher dauernd herumschleppen zu müssen.

Vuk Drašković ist so einer. Sein, höflich formuliert, unklares Verhältnis zum serbischen Nationalismus macht ihn vermutlich ein wenig unbeliebt außerhalb seiner Heimat. In Bosnien und Kroatien gilt er vielfach – zu Unrecht – als Kriegshetzer. Das Paket kam trotzdem ganz an. In rekordverdächtigen vier Tagen. Da weilte dieser Autor noch in Sarajevo.

Mit „The Memoirs of Jesus“ versucht der Provokateur Drašković, so etwas wie Klarheit herzustellen und vielleicht auch, sein Bild zurechtzurücken. Das gelingt ihm auf literarisch durchaus ansprechende Art.

Der Held, ein humpelnder Fotograf mit Spitznamen Jesus, wird in die Wirren der Proteste gegen Slobodan Milošević kurz vor Ausbruch des Jugoslawienkriegs 1991 gezogen. Er kommt mit der Opposition in Berührung, bei der keiner weiß, inwiefern sie von Miloševićs Geheimdienst gelenkt ist oder nicht.

Jesus erlangt mit seinen schonungslosen Bilder aus dem kriegsversehrten Kroatien schnell Ruhm und Beliebtheit bei Oppositionellen. Nationalistische Milizen, vermutlich geheimdienstgesteuert, wollen ihn instrumentalisieren. Was er ablehnt. Und was ihm nicht gut tut.

Drašković schildert schonungslos serbische Kriegsverbrechen in der Krajina und in Bosnien. Verbrechen, die auch eine Einheit beging, seine damalige Partei SPO aufgestellt hatte, die Srpska Garda. Drašković konnte nie eine Verstrickung in die Verbrechen nachgewiesen werden, er selbst galt auch 1991 als Kriegsgegner.

Das Schicksal dieser Einheit und die Ermordung ihres Kommandanten verarbeitet er im Roman. Und stellt die These auf, dass der Großteil der serbischen Milizen im Jugoslawien-Krieg vom jugoslawischen Geheimdienst gesteuert gewesen seien, auf dessen Order hin auch zahlreiche der Massaker begangen worden sein sollen.

Mit dieser Interpretation steht der Schriftsteller nicht alleine da. Auch der in Beograd geborene Autor Bogumil Balkansky sieht in seiem jüngsten Werk „Asphalt Hyänen“ die serbischen Milizen als Teil der vom Regime gesteuerten organisierten Kriminalität. Ein Interview mit dem Autor wird in den nächsten Wochen auf Balkan Stories erscheinen.

Auch wenn Drašković seine eigene Rolle in einigen Stellen des Buches vermutlich etwas überhöht, ist dieser Roman eine lesenswerte und lehrreiche Abrechnung mit Krieg und seinen Wurzeln. Beachtenswert und besonders gelungen sind etwa die Passagen, in denen Drašković das Auseinanderbrechen multiethnischer Gemeinden in ihre serbischen und bosnjakischen Teile und deren Radikalisierung beschreibt.

Der Roman ist nicht nur ein zeitgeschichtliches Dokument, er ist auch literarisch wertvoll. Auf Deutsch ist der Roman nach Wissen dieses Autors nicht erschienen.

Vuk Drašković: „The Memoirs of Jesus“, aus dem Serbischen von Mary Thompson Popović, Laguna, 303 Seiten.

SelimovicDer Tod und der Derwisch

Dieser Klassiker von Meša Selimović ist außerhalb des ehemaligen Jugoslawien bedauerlicherweise eher unbeachtet geblieben. Die englische Übersetzung etwa, die dieser Autor in Sarajevo erstanden hat, ist erst 1995 entstanden, gut 30 Jahre nach Veröffentlichung des Buches. Es war die erste Übertragung ins Englische überhaupt.

Auf Deutsch gibt es einige ältere Übersetzungen, die unter dem Titel „Der Derwisch und der Tod“ erschienen sind.

Dabei ist dieses Buch mit seiner meisterhaft ausgeklügelten psychologischen Handlung ein wunderbares Beispiel der modernen europäischen Literatur.

Die Geschichte von Machterhalt und Willkür, der Rache des Derwisch und seinem tiefen Fall ist in ihrer Detaillierheit und ihrer präzisen Analytik Kafkas Prozess durchaus ebenbürtig. Da es ein Klassiker der jugoslawischen Literatur ist, sei hier auf eine nähere Besprechung des Inhalts verzichtet. Auch wenn es nicht die verdiente Beachtung gefunden hat, Rezensionen liegen genügend vor.

Dieses Buch sei jedem ans Herz gelegt, der Bosnien verstehen will und die Möglichkeiten des Einzelnen im Zustand nahezu absoluter Willkür.

Die Übersetzung, die dem Autor vorliegt, hat bedauerlicherweise die Schwäche zahlreicher älterer Übertragungen aus der Sprache, die einmal Serbokroatisch genannt wurde, sei es im Englischen oder Deutschen. Eigennamen werden durchwegs in die zu übersetzende Sprache transkribiert, was im Vergleich zum Original immer zu Unklarheiten bei der Aussprache und zu Unsicherheiten vor allem bei Ortsnamen führt. Dennoch ist sie flüssig zu lesen und gibt die Subtilitäten des Werks hervorragend wieder.

Meša Selimović: Death And The Dervish, aus dem Serbokroatischen von Bogdan Rakić und Stephen M. Dickey, Writings from an Unbound Europe, 473 Seiten.

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