Ein Plakat mit Vučko, dem Maskottschen der Olympischen Winterspiele in Sarajevo 1984

Was vom Wintermärchen blieb

Sarajevo erinnert heute an den vielleicht schönsten Moment seiner Geschichte. Am 8. Februar 1984 wurden dort die Olympischen Winterspiele eröffnet. In keiner anderen Stadt würde ein solcher Jahrestag derart gefeiert. Die Feiern sind der einzig intakte Teil des Erbes des Wintermärchens.

Vučko hängt überlebensgroß über der Ewigen Flamme für die gefallenen Befreier Sarajevos im Zweiten Weltkrieg am Ende der Ulica Maršala Tita. „Ein Symbol besserer Zeiten“, schreibt die Stadtverwaltung auf der Facebook-Seite Sarajevo 71000.

Foto: Grad Sarajevo

Benjamina Karić, die Bürgermeisterin von Sarajevo, empfängt am Flughafen Eiskunstlaufstars Katarina Witt, Sanda Dubravčić Šimunjak und die kanadische Eishockeylegende Luc Tardif, der mittlerweile Präsident der Internationalen Eishockey Förderation ist.

Auch Gabriela Soukalová, Květa Pecková und Blanka Paulů sind angereist, die allesamt Medaillen bei den Olympischen Winterspielen gewonnen haben. Mehrere andere Teilnehmer werden erwartet.

Fast als würde man nicht den Jahrestag einer Eröffnung feiern sondern heute wieder Olympische Winterspiele eröffnen.

Großer Bahnhof, sozusagen. Wenn da nicht der Bahnhof wäre.

Wenn es nicht der Flughafen wäre, würde man sagen, den Gästen werde ein großer Bahnhof bereitet. Nur, der Bahnhof von Sarajevo ist heute bekanntermaßen kaum mehr als, wenngleich formschöne, Kulisse für ein vernachlässigtes und kaum mehr existentes Eisenbahnnetz (siehe HIER). Gebaut wurde der Bahnhof im Stadtteil Marjin Dvor für die Olympischen Spiele 1984.

Womit man bei allem Pomp für die Feier des Goldenen Moments der Stadt Sarajevo unsanft in der Realität gelandet wäre wie einst Hermann Maier bei der Abfahrt in Nagano.

Kaum erbaulicher ist der Anblick des Eingangs der Olympia-Halle Zetra, des Herzstücks der Winterspiele. Aufgenommen wurde es vor wenigen Tagen.

Foto: Darjan Bilić

Die Realität und der Glamour der Erinnerung sind ein Kontrast, wie er stärker kaum sein könnte.

Die Sache mit der Seilbahn

Besser funktioniert mittlerweile wieder die Seilbahn auf den Trebević. Sie wurde im Krieg in den 1990-ern zerstört und vor wenigen Jahren neu eröffnet – mit viel Pomp und seinerzeit mit vielen Anspielungen auf die Olympischen Spiele.

Auch die Seilbahn hat einen Schönheitsfehler. Für Bosnier kostet eine Rundfahrt 6 Mark. Von Ausländern verlangt man 30 Mark. Die Fahrkartenverkäufer kontrollieren im Zweifelsfall den Reisepass – auch um zu verhindern, dass Dijaspora-Bosnier zum Normaltarif auf den Hausberg von Sarajevo fahren.

Am Trebević etabliert sich langsam Infrastruktur für Touristen und Bergwanderer, seitdem die Seilbahn neu eröffnet wurde.

Bei meinem ersten Besuch gab es ein paar mobile Verkäufer von frischen Chips, Popcorn und Getränken am Berg. Heute steht ein Restaurant oben.

Morbider Charme

Die Sportstätten für die Olympischen Winterspiele am Trebević verfallen und verwittern seit mehr als 30 Jahren. Sie sind wahrscheinlich nicht mehr zu retten. Das gilt vor allem für die Bob-Bahn.

(Eine künstlerisch bessere Interpretation findet ihr HIER.)

Wie viele der ausländischen und einheimischen Touristen des morbiden Charmes der Anlagen hier rauf kommen und wie viele „nur“ bergwandern wollen, ist eine gute Frage.

Dass manche westliche Touristen den Bosnien-Krieg nicht verstanden haben, zeigt unter anderem dieses Graffiti.

Als ob Bosnien mehr Religion bräuchte.

Dass man die Religion Ende der 1980-er in Jugoslawien wieder ausgrub, versetzte dem Land den Todesstoß, und fand im frisch unabhängigen Bosnien seine blutige Fortsetzung.

Bis heute Einschusslöcher gleich um die Ecke

Es ist die Tragödie dieser Stadt, dass die Erinnerung an den wohl schönsten Moment ihrer Geschichte und an ihre schrecklichsten Stunden, ja Jahre gar, so nahe beieinander liegen, dass man sie kaum auseinanderhalten kann. Wenn das denn überhaupt möglich ist.

Acht Jahre und knapp zwei Monate nach der Eröffnung der Winterspiele war Jugoslawien zerfallen, und sollte nach dem Willen der Republika Srpska das neu gegründete Bosnien zerfallen. Am 4. April standen die Truppen des bosnisch-serbischen Splitterstaates am Trebević und belagerten Sarajevo. 1425 Tage lang. Mehr als 10.000 Menschen in der bosnischen Hauptstadt fielen der Belagerung zum Opfer.

Dass hier die Frontlinie verlief, sieht man, wenn man den Trebević Richtung Bistrik heruntergeht. (Dass diese Wanderung durchaus abenteuerlich verlaufen kann, könnt ihr HIER nachlesen.)

Bis heute ist der Berg die innerbosnische Grenze

Die Nachwirkungen sieht man auch, wenn man sich in Bosnien auskennt. Am Trebević verläuft seit dem Daytoner Abkommen die Grenze zwischen den beiden Teilstaaten, der bosnjakisch-kroatisch dominierten Federacija und der serbisch dominierten Republika Srpska.

Das umstrittene Hotelprojekt Trebević Hills etwa steht auf der Republika Srpska-Seite des Bergs, ist aber praktisch nur von der Federacija-Seite aus zu sehen, und verschandelt damit nur den Bewohnern Sarajevos die Sicht auf ihren Hausberg. Ein Schelm,…

Trebević Hills ist eines von vielen dubiosen Großprojekten im ehemaligen Jugoslawien seit der kapitalistischen Restauration. Einen Überblick findet ihr unter anderem HIER.

Die Erinnerung an das Wintermärchen und den Krieg ist freilich nicht nur nostalgisch. Das hier etwa ist ein sarkastischer Kommentar lokaler Künstler.

Olympia ist überall

Weder Sarajevo noch Bosnien haben sich vom Krieg erholt. Verantwortlich ist nicht zuletzt das komplizierte Staatsgefüge, das mit dem Friedensvertrag von Dayton dem Staat als Verfassung aufoktroyiert wurde.

Das erklärt auch, mit welcher Zähigkeit die Stadt und ihre Bewohner an der Erinnerung an die Olympischen Winterspiele 1984 festhalten.

Überall findet man Vučko oder das Logo der Winterspiele von seinerzeit. Am Busbahnhof, in den Pflastersteinen vor dem Trg oslobođenja – Alija Izetbegović im Stadtzentrum, auf Schornsteinen, auf Wegweisetafeln.

Als ob diese Spiele erst gestern zu Ende gegangen wären.

Verdenken kann man es den Saralije nicht.

1984 konnte sich diese Stadt stolz der Welt präsentieren, erarbeitete sich den Ruf, hervorragende Gastgeberin zu sein, lockte Weltstars wie Kirk Douglas an – über den die Städter bald ein launiges Sprichwort erfanden.

Der Nostalgie steht auch nicht entgegen, welche Bedeutung das IOC diesen Spielen heute gibt. Eine Doku auf der Homepage des Komittees etwa nennt Sarajevo 1984 „A Turning Point“.

Es waren die ersten halbwegs skandalfreien Spiele seit Langem.

Im blockfreien Jugoslawien boykottierten weder USA noch UdSSR.

Doku des Olympischen Museums in Sarajevo

Bis zu zwei Milliarden Menschen sollen die Eröffnung gesehen haben, heißt es in einer Mini-Doku in der Regionalausgabe von Radio Free Europe. Sie geht auch der Frage nach, ob es heute einen „Olympismus“ in Sarajevo gebe.

Als Maskottchen hat Vučko heute international einen deutlich höheren Wiedererkennungswert als die anderen Maskottchen der Ära. Das liegt auch daran, dass er ästhetisch aus der Moderne kommt. Er hat Charakter. Die Konkurrenz ist mit wenigen Ausnahmen lieblich und belanglos. Bis heute.

Das ist eine weitere Dimension des überbordenden Gedenkens an den 40. Jahrestag der Eröffnung, das Sarajevo in diesen Tagen begeht und feiert.

Es ist nicht nur der Traum des längst verblassten und blutig übertünchten Wintermärchens. Es ist auch die Hoffnung, dass es bald oder zumindest eines Tages wenn vielleicht nicht ein zweites Wintermärchen so doch zumindest die Normalität geben wird, die die Menschen nur wenige hundert Kilometer nördlich genießen.

Dass sich die Hoffnung auf eine bessere Zukunft im Feiern einer besseren Vergangenheit ausdrücken muss, ist Teil der bosnischen Tragödie. Es ist aber keinesweg ein bosnisches Alleinstellungsmerkmal.

Es sollte allen ein Ansporn sein, nachzudenken, wie man eine bessere Zukunft für alle sichern kann.

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