„Sonst wären wir nicht hier“

In Wiener Neustadt ist das Begräbnis des Mordopfers David Dragičević aus Banja Luka am Freitag zu einer Protestaktion gegen Korruption und Behördenwillkür in Bosnien geworden. Hunderte Menschen nahmen teil, ein Teil reiste aus Bosnien und der Schweiz an. Aus dem Behördenversagen ist die größte Protestbewegung seit der bosnischen Unabhängigkeit geworden.

Die Begräbnishalle am städtischen Friedhof in Wiener Neustadt kann die Menschenmasse nicht fassen.

Gut die Hälfte der Teilnehmer muss über die Außenlautsprecher lauschen, wie Davor Dragičević in einer kurzen Rede Abschied nimmt von seinem ermordeten Sohn David. Oder es versucht.

„Ich kann an diesem Tag nicht Abschied nehmen von meinem Sohn, der im Sarg vor mir liegt. Genausowenig wie ich den Behörden der Republika Srpska vergeben kann. Beides kann ich nur, wenn ich selber sterbe.“

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Seine Mutter Suzana Radanović und Davids Schwester Teodora können die Tränen nur mühsam zurückhalten.

Suzana stützt sich auf ihren heutigen Lebensgefährten, als der Sarg aus der Aufbahrungshallte herausgetragen wird.

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Dutzende Teilnehmer halten Herzen mit der Aufschrift David hoch.

Aktivistin Dženita Memić und ein anderer Teilnehmer halten ein Transparent mit der Aufschrift „Pravda za Davida“. Gerechtigkeit für David.

Ein Jahr nach seinem Tod und 500 Kilometer von seinem Heimatort entfernt findet der Protest gegen den ungeklärten Mord an David seinen tragischen Höhepunkt.

Teilnehmer auch aus Bosnien und Italien angereist

Dass er unweit von Wien seine letzte Ruhe finden soll, hat zwei Gründe: Seine Mutter lebt seit geraumer Zeit in Wiener Neustadt.

Und so sehr der Tod des Studenten eine Protestbewegung ausgelöst hat, so groß ist der Wunsch der Eltern, dass seine sterblichen Überreste in Frieden ruhen mögen. Das, so glauben sie, ist in Banja Luka nicht möglich.

Es ist nicht nur Trauer um einen bei Familie und Freunden beliebten 21-Jährigen, die die Menschen heute zusammenbringt.

Sie sind aus Banja Luka angereist, aus Gradiška, teils im Auto, ein paar Dutzend auch in einem für die Fahrt gemieteten Bus, der vor dem städtischen Friedhof geparkt ist, aus Zürich, aus Ljubljana, aus Italien und aus der näheren Umgebung.

„So ein großes Begräbnis ist bei uns nur sehr, sehr selten“, sagt eine Angestellte des Friedhofs.

Auf 200 Menschen oder mehr schätzt die Friedhofsverwaltung die Teilnehmerzahl.

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„Sonst wären wir nicht hier“

„Wir sind alle hier, um den Eltern unseren Beistand zu leisten. Wir kennen sie ja“, sagt Edin, der heute in Wien lebt. „Aber wir protestierten damit auch gegen die Korruption der Behörden in Bosnien. Es ist ein Wahnsinn, was dort passiert.“

Ob er glaubt, dass die Protestbewegung Pravda za Davida etwas bewirken kann? „Sonst wären wir nicht hier. Wir kämpfen dafür, dass die Menschen unten so leben können wie in Deutschland, Österreich oder Frankreich. Ganz normal eben.“

Vor dem offenen Grab steht Valentin Inzko, umringt von seinen Leibwächtern.

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Der Hohe Repräsentant für Bosnien, sozusagen Statthalter für EU und UNO und theoretisch oberstes politisches Organ Bosniens, will mit seiner Anwesenheit signalisieren, dass sich jemand dieses Mordfalls annimmt und es ein Bewusstsein gibt, dass die Behörden in Bosnien in ihrer wichtigsten Funktion versagen: Die Bürgerinnen und Bürger des Landes zu schützen.

Verpfuschte Ermittlungen oder Vertuschung?

David war vor einem Jahr ermordet in einem Straßengraben gefunden worden. Die Polizei sprach zuerst von einem Unfall, den der Jugendliche erlitten haben soll, nachdem er im Drogenrausch einen Einbruch verübt habe.

Eine spätere Obduktion auf Druck der Eltern ergab, dass David stranguliert worden war. Von Drogen oder gar Drogenhandel, wie die ermittelnden Behörden unterstellt hatten, war plötzlich keine Rede mehr.

Freilich, Verdächtige hat man bis heute nicht ermittelt und wichtige Beweisstücke sind verschwunden.

Ob geschlampt wurde oder die Polizei versuchte, ein Verbrechen zu vertuschen, ist bis heute ungeklärt.

Das Parlament des bosnischen Teilstaats Republika Srpska setzte einen Untersuchungsausschuss ein. Der wurde aber von der nationalistischen Mehrheitspartei SNSD ergebnislos abgedreht.

Größte Protestbewegung seit dem Krieg

Davids Fall ist nicht der einzige, der die bosnische Öffentlichkeit erschüttert. Auch der Mord an Dženan Memić, dem Cousin von Dženita Memić, in Sarajevo vor drei Jahren ist bis heute ungeklärt.

Gemeinsam haben die Eltern der beiden Mordopfer im vergangenen Jahr die größte Protestbewegung Bosniens seit der Unabhängigkeit auf die Beine gestellt. Anders als jede Bewegung vorher umfasst sie beide Landesteile – die serbisch dominierte Republika Srpska und die bosniakisch-kroatische Federacija.

Bis zu 40.000 Menschen nahmen an Großdemonstrationen der Bewegungen Pravda za Davida und Pravda za Dženana teil. In Banja Luka finden zudem bis heute täglich Protestkundgebungen statt, trotz immensen Drucks der Polizei.

„Es ist gut, dass Inzko da ist“, sagt Davids Mutter Suzana, die für einen Moment zur Ruhe gekommen ist. „Vielleicht tut sich jetzt etwas.“ Auch, dass viele Medienvertreter da sind, nährt Hoffnung.

Staatsfernsehen der Republika Srpska fehlt

Auch sie sind aus Bosnien, aus Deutschland, aus Österreich.

Einzig das Staatsfernsehen der Republika Srpska fehlt.

Es steht der nationalistischen Regierungspartei SNSD nahe und berichtet so wenig wie möglich über die Proteste. Wie überhaupt die zahlreichen regierungsnahen Medien der Republika Srpska das Thema so umfassend verschweigen, wie sie können.

Gordana aus Gradiška lässt sich davon nicht beirren. Sie ist mit dem Bus aus Banja Luka angereist: „Ich verstehe die Botschaft der Proteste und bin hier, um das zu unterstützen. Außerdem bin ich selber Mutter.“

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Als Davids Sarg heruntergelassen wird, strecken viele Teilnehmer die Faust in die Höhe zum Zeichen der Bewegung von Pravda za Davida.

„Pravda za Davida“, rufen sie. Und „Pravda za našu djecu“. Gerechtigkeit für all unsere Kinder.

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Auch das ein Zeichen, dass es längst nicht mehr nur um David geht sondern darum, ob die heranwachsende Generation überhaupt eine Zukunft im Land hat. Darüber könnten unter anderem Protestbewegungen wie diese entscheiden.

Mitarbeit: Vid Jeraj

Diese Reportage erschien zuerst in Übersetzung auf DW Bosna i Hercegovina.

4 Gedanken zu “„Sonst wären wir nicht hier“

  1. Es ist grausam, was in Bosnien wieder geschieht. Trotzdem frage ich: Warum kam dieser Protest nicht auch waehrend des Krieges zwischen 1992 und 1995?
    Da waere zum Beispiel ein gemeinsamer Widerstand der Kroaten und Serben wichtig gewesen, um Krieg, Mord, Vetreibung, Raub, Enteignung, Vetfolgung der Katholiken und Vertreibung dieser Menschen haette verhindert werden koennen.
    Die Verantwortlichen von damals stehen auch bei den heutigen Ereignissen von Banja Luka in der Verantwortung.

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    1. Ich denke, das lag daran, dass es damals die Menschen für unvorstellbar gehalten haben, dass es einen derart grausamen Bürgerkrieg geben würde. Und vor allem ging es für die meisten viel zu schnell. Die Menschen dachten, sie könnten den Krieg, vor dem alle Angst hatten, mit Demonstrationen aufhalten. Und dann war er da, bevor eine Massenbewegung entstehen konnte, die es wirklich hätte aufhalten können. Klar: Die Hunderttausenden, die gegen diesen Krieg waren, haben die Gewalt dessen unterschätzt, was kommen würde. Im Rückblick ist es immer einfacher, solche Fehler zu erkennen. Ich bin übrigens überzeugt, dass die Erfahrung, dass man damals nichts tun konnte, einer der entscheidenden Faktoren ist, warum die Menschen im ehemaligen Jugoslawien politisch generell eher passiv sind und sich viel gefallen lassen, bevor sie auf die Straße gehen.

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