Zoki weiß, wo Atlantis liegt. Beban schenkt mir eine Flasche Schnaps. Der Schneemann nimmt sich den Kopf ab.
„Ah, du magst Literatur? Wer ist denn dein Lieblingsschriftsteller?“
Zoki scheint sehr erfreut, in mir einen Mit-Leser gefunden zu haben. Nur könnt er auch einfachere Fragen stellen. Auf diese fällt mir nie was Gescheites ein. Nur ein lange Liste.
„Hmmm. Lass mich nachdenken. Ivo Andrić vielleicht?“ Ich lese gerade „Die Brücke über die Drina“ neu. Logisch, dass er mir als erster einfällt.
Zoki lächelt sehr zufrieden. Auch Murat und Enver freuen sich.
Heute sind überraschend viele Ex-Jugoslawen hier. Der Ausdruck passt. Sie sind alle geboren worden, bevor der Staat gewaltsam auseinanderbrach.
Der Platz vor unserem Cafe in einem Arbeiter- und Migrantenbezirk wird zunehmend boboisiert. Unser Cafe ist eines der letzten, das in Gestalt der serbischstämmigen Wirtin noch in proletarischer Hand ist. Freilich sind selbst aus diesem Lokal viele Stammgäste aus dem Arbeiter- und/oder Migrantenmilieu im Lauf der Jahre abgewandert.
„Oder Ernest Hemingway. Sehr schwer zu sagen. Da wär auch noch Maxim Gorky. Oder, lass mich überlegen, wie heißt der noch mal, ach ja, T.C. Boyle.“
„Ich mag Erich von Däniken“, sagt mir Zoki. „Der ist genial.“
„Naja, Einfallsreichtum hat er jedenfalls.“
Zoki kommt in Fahrt
Zoki bestellt sich noch einen Spritzer und für mich ein Gösser. So tief kann die Augustsonne gar nicht stehen, dass sie heute abend nicht erbarmungslos runterbrennen würde.
Ich weiß nicht recht, ob Zoki von Däniken als genialen Geschichtenerzähler sieht, der er zweifelsohne ist. Eine Qualität, die am Balkan sehr geschätzt wird. Oder hält er ihn für einen ernstzunehmenden Wissenschaftler?
„Auf was der alles draufgekommen ist, ein Wahnsinn, sag ich dir.“
Der Spritzer kommt auf unseren Tisch und Zoki in Fahrt.
„Die Pyramiden in Ägypten, die konnten die damals nicht selber bauen. Probier doch mal, Granit zu hauen, mit einem Meißel aus Kupfer.“
Meine Versuche, rationale Argumente einzubringen, wirken so nutzlos als würde ich versuchen, einen der besagten Granitblöcke an seinen Standort zu pusten.
Wo Atlantis ist, weiß Zoki auch, das hat er in einem Youtube-Video gesehen. Es liegt vor den Bahamas und bewiesen wird das durch eine gläserne Pyramide im Marianengraben.
Oder so. Vielleicht hab ich auch nur ein unwichtiges Details verpasst.
Die Spur führt nach Visoko
Auf von Däniken ist Zoki, ein bosnischer Serbe, gestoßen, als er sich mit den „Pyramiden“ von Visoko beschäftigt hat. Streng genommen ist es nur eine und dieser Berg schaut auch nur aus einer Perspektive einer Pyramide ähnlich.
Der gesamte Tourismus in Visoko und Region ist von der modernen Legende abhängig. Sie bringt eso-affine Westler mit Geld, Balkanier mit weniger Geld aber mehr Nationalstolz und eine Handvoll Skeptiker in die Gegend.
„Ja, die sind echt. Das ist ganz klar. Das hat sogar ein ägyptischer Pyramidenforscher bestätigt. Aber, als er dann nach Ägypten zurückgekommen ist, hat er das am nächsten Tag sofort zurückgenommen. Sein Chef hat ihm gesagt, entweder er macht das oder er kündigt ihn. So ist das.“
Der Balkan, das Mutterland der Verschwörungstheorie, schießt es mir durch den Kopf.
Gut, dass Ferdl nicht da ist
Aufs Stichwort schaltet sich Boris in die Diskussion ein. Er hat vor ein paar Minuten am Tisch neben uns im belebten Schanigarten einen Sitzplatz gefunden.
Boris sieht sich selbst lieber als Dichter und Schriftsteller als als lokaler Hausbesitzer, der massiv von der Gentrifizierung des Platzes in den vergangenen Jahren profitiert hat. Ebenso, das sei angemerkt, vom Immobilienboom in seiner Heimatstadt in einem südlichen Bundesland. Sein Oeuvre umfasst zwei schmale und eher verrissene Poesie-Bände.
„Ja, so ist das. Da wird gnadenlos vertuscht und Druck ausgeübt, da kommt sofort die Desinformation.“
Boris glaubt auch, dass AIDS und Ebola aus Laboren der CIA kommen. Bleibt den zwei nur rauszufinden, wie das mit der Destabilisierung Jugoslawiens zusammenhängt, die laut Zoki ebenfalls ein Komplott der CIA war.
Ich bin nur froh, dass Ferdl nicht da ist. Sonst wären am Ende wieder die Juden schuld. Und vielleicht noch die Freimaurer.
Eine Plastikflasche voll Abenteuer
Mich beginnt die Sache zu langweilen. Vielleicht liegt’s an der Hitze. Vielleicht werd ich alt. Oder vielleicht bin ich nach den vielen begnadeten Geschichtenerzählern in Jugo-Beisl’n einfach nur wählerisch geworden.
Beban, sozusagen ein Österreicher mit serbischem Serbenhintergrund, hat sich bisher offenbar im Inneren des Lokals versteckt. Er macht zwei Schritte vor die Tür, sieht mich und dreht um.
Freudestrahlend kehrt er nach nicht einmal einer Minute zurück und hält mir eine Halbliter-Plastikflasche Vöslauer entgegen. „Da, das hab ich dir doch versprochen“.
Ich bin etwas verwirrt und schau die Flasche genauer an. Es ist kein Mineralwasser drin. Sie ist randvoll mit Rakija.
Der Šljivovic, den mir Beban gestern versprochen hat. Selber gebrannter. 10 Jahre alter.
„Ich hab damals 300 Kilo Zwetschken gekauft, unten natürlich. Die haben so 200 oder 250 Euro gekostet. Daraus hab ich so 120 Liter Schnaps gemacht“, sagt Beban stolz.
Die Darreichungsform passt zum balkanesischen selbst gebrannten. Plastikflaschen sind ein beliebtes Transportmittel für Destillate.
Billig, überall verfügbar, leicht und einem Zöllner fällt das nur bedingt auf. Passt. Eine eigene Kafana wollen wir hier eh nicht eröffnen.
Dragica bringt uns zwei Stamperl-Gläser und nimmt eines wieder mit. Beban ist es zu heiß.
Auftritt der Schneemann
Ich schenke mir ein. Dragica bringt mir ein großes Glas Wasser.
Der Schneemann kommt aus dem Schanigarten des benachbarten Bio-Restaurants.
Ein Pekinese verbellt ihn vom Schoß seiner Besitzerin aus. Er scheint den Bettler in seinem nur bedingt der Jahreszeit entsprechenden Kostüm noch nicht zu kennen.
Der Schneemann hält den Gästen einen Pappbecher hin, bewegt seine Karottennase mit der freien Hand auf und ab und nickt eifrig.
Ein paar Cents fallen auch diesmal ab. Selbst in diesem Lokal, wo die Klientel im Vergleich zum Rest des Platzes in der Regel nicht zu den Besserverdienern gehört.
Der Schneemann gehört seit seinem ersten Auftritt Ende Mai oder Anfang Juni zu den Legenden des Platzes. Bislang will niemand gesehen haben, wer sich im Kostüm verbirgt.
Ich nehme einen vorsichtigen Schluck Šljivovic. Weich ist er, brennt nur leicht im Abgang.
Als ich aufschaue, verschwindet der Schneemann hinter einer der Litfaßsäulen.
Beban muss weiter und verabschiedet sich. Zoki hat Däniken mittlerweile auch durch und schließt sich an.
Wie sich der Schneemann den Kopf abnimmt
Ich schaue den beiden nach, wie sie über den Markt Richtung U-Bahn gehen.
Mein Blick schweift ab, nach rechts Richtung Platz. Er bleibt bei der Litfaßsäule hängen, hinter der der Schneemann verschwunden ist. Dahinter eine der wenigen Ecken des Platzes, die nicht voll ist mit Gästetischen und Schanigarten-Dekor.
Der Schneemann lugt hervor und greift mit beiden Händen seinen schwarzen Zylinderhut. Er zieht kurz daran. Und hält seinen Kopf in Händen.
Auf seinen Schultern sitzt das verschwitzte Gesicht eines etwas dunkelhäutigeren Mannes zwischen 30 und 40, der schwer keucht und einen Blick über die Schanigärten schweifen lässt.
Ob er seinen Erfolg oder Misserfolg Revue passieren lässt oder nachdenkt, wo er wieder sein Glück versuchen könnte, erschließt sich aus der Entfernung nicht.
Dann verschwindet er wieder hinter der Säule.
Ein paar Minuten geht er wieder mit federnden Schritten auf den Platz. Auf seinen Schultern hat der Schneemann wieder seinen eigenen Kopf. Mit Zylinder und Karottennase.
Der (ost-)österreichische Ausdruck Beisl, auch Beisel oder Beis’l geschrieben, entspricht etwa der deutschen Kneipe.