Wien wächst. Sein Wachsen verschlingt die Neuankömmlinge. Vor allem die vom Balkan. Das sehe ich in meinen Stammcafes jeden Tag. Besonders dieses Wochenende.
Die Griffe von Igors Krücken sind orange.
Sie lehnen am Tisch im Schanigarten von einem Jugobeisl um die Ecke.
Igor kommt frisch aus dem AKH.
Sein Knie ist operiert worden.
„Ich bin auf der Baustelle eine Stiege runtergefallen“, erzählt er.
Letzte Woche war das.
Dreieinhalb Stunden Operation am Knie, Schienen am verletzten Gelenk. Mindestens zwei Monate Krankenstand.
„Geh nicht zu früh zurück“, warnt Luca und lädt uns auf ein Bier ein.
Luca ist außer mir einer der wenigen Nicht-Jugos im Beisl.
Er kommt aus Rumänien.
Igor kommt aus Beograd.
Beide sind Bauarbeiter.
„Ich hab mir den Rücken kaputtgemacht“, erzählt Luca. „Ich hab geglaubt, alles geht. 50 Kilo Zement, kein Problem.“
Irgendwann ging das nicht mehr.
Heute ist Luca Baggerfahrer für eine große Baufirma, die in Wien vorwiegend öffentliche Aufträge ausführt.
Igor arbeitet für eine kleine Baufirma, die dem Bruder vom Chef des Cafes gehört.
Die machen vorwiegend private Aufträge in und um Wien herum.
Wenn sie zurückkommen von ihren Baustellen, kehren sie meistens hier ein. Entgegen gängigen Klischees trinken sie nicht immer nur Alkohol.
Ivo arbeitet oft als Kellner in einem anderen Jugobeisl.
Wenn er nicht das macht, steht er auf der Baustelle einer kleinen Baufirma, die einem Bosnier gehört.
Ivo kommt aus Bosnien.
Bisher sind ihm größere Unfälle erspart geblieben. Er ist auch erst drei Jahre hier.
Nicht selten hat er Nachtschicht im Cafe und steht um sieben in der Früh auf der Baustelle.
Auf der anderen Seite des Hinterhofs meines Wohngebäudes, gegenüber meinem Schlafzimmerfenster, steht die Volkshochschule Ottakring.
Sie wird gerade generalsaniert.
Wenn ich das Fenster aufmache, bläst der Wind meist Wort- und Satzfetzen in der Sprache ohne Namen ins Schlafzimmer.
Es hat einen Grund, warum Baustelle in der Sprache ohne Namen bauštela heißt.
Ab und zu höre ich ein wenig Türkisch.
Die wichtigsten Anweisungen kommen auf Deutsch. Mit und ohne Akzent.
Es soll auch jeder verstehen, worum es geht und auf Großbaustellen ist Deutsch die Lingua Franca.
Mehr ist sie nicht.
Das ist die Realität der Migrationsstadt Wien.
Das soll nicht zu Lasten der Betroffenen ausgelegt werden. Die bauen das neue Wien.
Jenes Wien, das sie verschlingt.
Die Lasten sind sehr ungleich verteilt.
Die körperlich weniger anstrengenden Tätigkeiten werden vorwiegend von jenen verrichtet, deren Familien schon mehrere Generationen in Österreich leben oder von Menschen, die aus der westlichen EU kommen.
Die körperlich anstrengenden Jobs lässt man den Menschen vom Balkan erster und zweiter Generation, aus der östlichen EU oder von noch weiter weg.
Das ist nicht nur am Bau, bei den schlecht bezahlten Kellnerinnen-Jobs am unteren Ende der Gastronomie, bei Putzfrauen.
Sofern es die Sprachkenntnisse zulassen, sind es auch Krankenpflegerinnen mit und ohne Diplom oder Altenpflegerinnen.
Viele der Betroffenen werden nach wie vor weit unter ihrer Qualifikation eingesetzt.
Wie bei Dijana.
Die hat in Serbien ein Krankenpflegerinnen-Diplom. Hier pflegt sie als Heimhilfe einen schwer behinderten Österreicher.
Sie hofft, dass sie bald im Krankenhaus arbeiten kann.
Sicher, in fast jedem Fall ist der Lohn ein weitaus höherer Lebensstandard als zuhause.
Sonst würden es die Betroffenen auch nicht auf sich nehmen, von zuhause wegzugehen und hier auf den Baustellen oder in Krankenhäusern körperlich schwere Arbeit zu verrichten und in der Arbeit die Gesundheit zu gefährden und nicht selten zu ruinieren.
Nicht alles ist so trist
Der Fairness halber ist auch nicht alles so trist wie es vielleicht bei der Gastarbeitergeneration war.
Nicht wenige, die im ehemaligen Jugoslawien geboren wurden, arbeiten hier in ihren erlernten Berufen.
Meine Hausärztin ist aus Sarajevo.
Eine liebe Freundin von mir aus Serbien arbeitet als Sonderpädagogin im Kindergarten. Wobei, das hat sie auch hier studiert.
Bekannte von mir aus Serbien sind Lehrer in der Erwachsenenbildung.
Ein anderer Bekannter aus Bosnien hat eine gut gehende PR-Firma.
Eine liebe Freundin aus Bosnien ist Betriebsrätin in einem großen Sozialbetrieb.
Mein Fleischer ist ein Bosnier, der in der Türkei aufgewachsen ist.
Eine Generation früher wäre ihnen außer der Baustelle oder einem Kellnerinnen-Job nicht viel geblieben.
Wien hat dazugelernt. Nur eben nicht genug.
Migration bringt immer Brüche. Ob es so viele sein müssen wie hier, darf bezweifelt werden
Klar, Migration bringt wahrscheinlich auch unter den fairsten Umständen immer größere Brüche mit sich.
Nicht alle Qualifikationen kann man in der neuen Heimat auch einsetzen.
Benjamin aus dem Sandžak hat das Beste draus gemacht.
Der ehemalige Hodža hat heute selbst eine Baufirma.
Man kommt auch nicht herum, die Sprache des neuen Landes zu lernen. Das geht als Erwachsener ohnehin schwieriger als als Kind oder Jugendlicher.
In der Zeit muss man sich auch irgendwie über Wasser halten.
In einem neuen Land weiß man auch nicht, wo und wie man Arbeit sucht.
Vor allem am Anfang läuft vieles über informelle Netzwerke, die vorwiegend aus Landsleuten bestehen.
Da spielen die Realitäten in der neuen Heimat genauso hinein wie Klischees aus der alten Heimat.
Schon in Jugoslawien galten etwa das Klischee, die Bosnier seien die besten Bauarbeiter.
Ob fair oder herablassend, das wirkt bis heute auch hier nach. Selbst unter den am Bau schwer überrepräsentierten Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien sind die Bosnier überrepräsentiert.
Dennoch ist zu bezweifeln, dass in dieser Stadt die Neuankömmlinge so fair behandelt werden, wie das dem Selbstbild Wiens entspricht.
Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien – erste und zweite Generation – sind etwas mehr als zehn Prozent aller Wienerinnen und Wiener.
Auf den Baustellen dieser Stadt sind sie mit Abstand die größte Gruppe.
Für andere Bereiche, wo schwere körperliche Arbeit verrichtet wird, gilt das ebenso. Vielleicht nicht im gleichen Ausmaß, aber immer noch deutlich.
Dafür muss es eine Erklärung geben.
Dass Migration immer Brüche bringt, wird es alleine nicht sein.
Schade, daß meine Eltern nicht nach Wien ausgewandert sind! Aber das war ihnen nicht weit genug entfernt vom Balkan … Ja, solche gibt’s auch.
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Ich kenn übrigens durchaus Leute aus dem ehemaligen Jugoslawien, die nicht in Wien Urlaub machen, weil es ihrer Meinung nach zu viele Menschen aus dem ehemaligen Jugoslawien dort gibt.
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Ja, etwas verstörend, find ich, wenn hinzu kommt, ziemlich genau dem Klischee zu entsprechen, dem zu entfliehen man versucht bzw. nicht begegnen will.
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Dass hier keine arbeitenden Montenegriner vorkommen, entspricht genau dem bösen Vorurteil über die Menschen aus jenem sympathischen Land. 😉
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