Er gilt als Traumlocation für Hochzeiten in Serbien. Und als Beograds ewige Baustelle. Der Hram Svetog Save, der Dom des Heiligen Sava. An ihm wird mit Unterbrechungen seit 1935 gebaut.
Es ist erstaunlich, wie schnell die Hochzeitsgesellschaft aus drei Dutzend Leuten oder mehr durch das enge Tor auf der Hauptseite des Hram Svetog Save ins Freie gelangt ist.
Vor einer Minute noch waren Touristen und Serben ins Kircheninnere gegangen, die Roma-Familie neben dem Eingang und vor allem die ausgestreckten Hände der kleinen Kinder missachtend.
Auf den Stufen und dem Vorplatz des Doms dominieren jetzt Euphorie und Glamour.
Die blondierte Braut strahlt, wie vermutlich nur Bräute strahlen.
Das Kleid wirkt nicht billig.
Auch der Rest der Gesellschaft hat sich in Schale geworfen.
Mal mehr und mal weniger stilsicher. Einige der Brautjungfern sind ganz im Turbofolkchic überkandidelt.
Die Kinder der Roma-Familie bleiben diskret im Schatten der Säule stehen. Die Kleidung wirkt abgetragen.
Das Elend, das einem gleich neben dieser Hochzeitsgesellschaft entgegenspringt, ist im beinahe wörtlichen Sinne nackt.
Der alte Mann mit Krücken macht nicht mehr als ein paar zögerliche Schritte auf die Hochzeitsgesellschaft zu. Als er merkt, dass er einem Fotografen im Bild stehen könnte, zieht er sich hinter die Säule zurück.
Der Satz „Roma werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt“ hat hier und heute mehrfache Bedeutung.
Die Betroffenen haben die eigene Marginalisierung so verinnerlicht, dass sie sich selbst auf die Seite begeben, bevor sie von den „weißen Serben“ auf die Seite geschubst werden.
Auch, die aktiv herumgehen und betteln wie vor einer Viertelstunde eine ältere Frau, halten Abstand.
Es kann vorkommen, dass Roma hier auf offener Straße geschlagen oder mit Steinen beworfen werden.
Die perfekte Fotokulisse
Geheiratet wird in diesem Teil der Welt gerne und früh im Vergleich zum Westen. Und es wird möglichst ausgiebig gefeiert.
Besonders in und vor dieser Kirche. Sie ist der Hauptsitz der serbisch-orthodoxen Kirche.
Das 78 Meter hohe Gebäude auf dem Vračar-Plateau überragt die Innenstadt und ist seit einigen Jahren eines der Wahrzeichen der serbischen Hauptstadt.
Das Fassadenmarmorweiß der neobyzantinischen Kirche überstrahlt an sonnigen Tagen den gesamten Platz.
Sofern man nicht strikt areligiös ist, kann man sich eine schönere Kulisse für den angeblich schönsten Tag im Leben wünschen als diesen Platz vor dieser Kirche?
Hier wird Dijaspora greifbar
Bei diesem Brautpaar sind die Verwandten aus halb Europa gekommen.
Ich schnappe aus der Richtung der Hochzeitsgesellschaft ein paar französische Brocken auf. Und klang das weiter hinten nicht Deutsch?
Das hörbar amerikanische Englisch von irgendwo anders muss nicht von den Feiernden kommen.
Vielleicht ist die Amerikanerin mit dem dicken Hintern wieder aus der Kirche draußen.
Das sollte man nicht sagen. Nur wackelte sie mit ebenjenem Derriere laut redend geradewegs in ein Foto, das ich von der Roma-Familie machen will, und es ist neben ihrer Herkunft das Einzige, was mir von ihr in Erinnerung bleiben wird. (Nein, es ist nicht die vom Foto weiter oben.)
Die Serben sind, wie die angehörigen der meisten Ethnien aus dem ehemaligen Jugoslawien, über die halbe Welt verstreut.
Allein seit 1990 ist mehr als eine halbe Million Menschen ausgewandert.
Zu feierlichen Anlässen wie einer Hochzeit im Dom des Heiligen Sava kommt man wieder in die alte Heimat.
Pomp und zwei Musikanten
Vielleicht stammt auch mindestens eine Hälfte des Brautpaars aus der Dijaspora. Es gelingt mir leider nicht, das herauszufinden.
Bevor ich fragen kann, fesselt eine Drohne meine Aufmerksamkeit. Eine der Fotografen oder Kameraleute für diese Hochzeit lenkt sie.
Auch wenn man die hohe Scheidungsrate in diesem Teil der Welt bedenkt, ist es wahrscheinlich, dass Braut und Bräutigam nur einmal in ihrem Leben in dieser Kirche heiraten.
Das soll offenbar nach dem Willen der Hochzeitsgesellschaft aus möglichst vielen Perspektiven festgehalten werden.
Es erklingen eine Ziehharmonika und eine Darbuka.
Die Musikanten sind zwei Männer in den 50-ern in ärmlicher Kleidung, viel zu warm für diesen Frühsommertag.
Sie haben sich in die Gesellschaft gedrängt, spielen selbstbewusst Volksmusik auf.
Niemand hat die zwei engagiert. Niemand scheint sich an ihrer Anwesenheit oder ihrer Musik zu stören.
Als Musikant muss man sich nicht verstecken. Anders als die, denen nur das Betteln zum Überleben bleibt.
Selbst als Rom, wie es der Kleinere mit der Darbuka vermutlich ist, nicht. Bei Musikanten ist die sonst häufig sehr strikte Trennung in „weiße“ und „schwarze“ Serben, in Serben und Roma, aufgehoben.
Musiker, Bettler, Müllsammler, Trödler. Das sind die Nischen, die Roma in den meisten Balkangesellschaften offen stehen. Darüber hinaus ist bald Schluss.
Die zwei mühen sich ab, schwitzen, tanzen, soweit es das Musizieren erlaubt, lächeln, grinsen, gehen herum.
Ein Mikrokosmos in und von dem Menschen leben
Es nützt wenig. Viel Geld wird nicht in die Darbuka gesteckt.
Wenigstens sind es Scheine. Münzen würden den Klang der kleinen Trommel beeinträchtigen. Außerdem sind Dinar-Münzen nichts wert.
Die Hochzeitsgesellschaft hat anderswo für eine opulente Feier reserviert, wahrscheinlich mit eigenen Musikanten.
Wahrscheinlich werden auch mehr Leute kommen als die drei Dutzend Gäste vor dem Sava-Dom.
Aber es wird heute sicher noch eine Hochzeit oder Taufe geben oder eine Busladung Touristen, auf die die Musikanten hoffen können.
Vielleicht nicht alle so knausrig wie diese Feiernden.
Der Sava-Dom zieht täglich zahlreiche Menschen an, Touristen vielleicht mehr als Gläubige.
Das schafft einen Mikrokosmos, in und von dem Menschen leben können. Bettler und Musiker auf gut Glück und mehr schlecht als recht. Bauarbeiter mit ebenso harter Arbeit und besser. Der Klerus recht gut und mit wenig Anstrengung.
Die ewige Baustelle
Die Hochzeitsgesellschaft nimmt ihre Pracht mit und lässt einen halbleeren Platz zurück, der vor sich hinverfällt.
Steinplatten am Boden sind geborsten. Auch die zwei viertelkreisförmigen Steinbänke sind stellenweise kaputt.
Und das, bevor diese Kirche fertiggestellt ist.
Wo Hochzeitsgesellschaften normalerweise nicht hinkommen, liegt Baumaterial herum.
Die Seiteneingänge sind sichtbarerweise noch nicht fertig.
Diese Kirche ist Beograds ewige Baustelle. Seit 1935 wird an ihr gebaut.
Mit Unterbrechungen, die insgesamt ein Vielfaches der bisherigen Nettobauzeit ausmachen.
Die meisten Verzögerungen sind nicht der serbisch-orthodoxen Kirche geschuldet.
Unschuldig war dieser Bau nie
Sofern religiöse Bauten jemals unschuldig sein können – der Hram Svetog Save war es nie.
Nach den ersten Planungen Mitte der 20-er entspann sich ein jahrelanger Streit, ob auf dem Vračar-Plateau ein Pantheon Jugoslawiens entstehen sollte oder eine der größten orthodoxen Kirchen westlich von Moskau.
Die serbisch-orthodoxe Kirche setzte sich durch. Sie hatte das jugoslawische Königshaus auf ihrer Seite. Und – vermeintlich – die Geschichte.
Irgendwo hier sollen die Osmanen 1594 die Gebeine des Heiligen Sava verbrannt haben.
Der frühere König von Hum wurde der offiziellen Hagiografie nach Mönch und zum Gründer der autokephalen serbisch-orthodoxen Kirche im Jahr 1219.
Er gilt Orthodoxen als Nationalheiliger Serbiens. Eine große Kirche zu seinen Ehren – eine, die ähnlich groß wäre wie die Hagia Sophia -, das hätte die serbisch-orthodoxe Kirche gestärkt. Zumal der jugoslawische König die Baukosten übernahm.
Der Zweite Weltkrieg verhinderte, dass mehr als die Fundamente gelegt wurden. 1945 wurde das Grundstück verstaatlicht. Die Kommunisten verboten den Weiterbau eines religiösen Gebäudes auf einem öffentlichen Grundstück.
1985 gestattete die Regierung der Sozialistischen Republik Serbien (als Teil Jugoslawiens) der Kirche überraschend, weiterzubauen.
Die Entscheidung ist vor dem Hintergrund des erstarkenden serbischen Nationalismus in den 1980-ern zu sehen.
Befeuert wurde er unter anderem von den Studentenunruhen im Kosovo 1981, die fälschlicherweise als albanisch-nationalistisch interpretiert wurden und vom kroatischen Nationalismus, der sich unter dem Schutz des Franziskanerordens rund um die angeblichen Marienerscheinungen in Medjugorje ab 1981 einen legalen Aufmarschort geschaffen hatte.
Die jugoslawische Regierung arbeite ständig daran die Serben als größte Nation, die die größten Opfer für Jugoslawien gebracht habe, zu schwächen und zu benachteiligen, so die gängige Meinung unter serbischen Nationalisten.
Als Sprachrohr des erstarkenden Nationalismus agierte und als vorgebliche Retterin und Trägerin der serbischen Nation inszenierte sich die serbisch-orthodoxe Kirche.
So wie es die katholische Kirche in Kroatien tat, wo man ebenfalls die kroatische Nation systematisch benachteiligt sah.
Als 1989 die Kuppel, so groß wie die der Hagia Sophia, aufgesetzt wurde, hatten serbische und kroatische Nationalisten ihre Zerstörung Jugoslawiens fast abgeschlossen.
Bevor der weiße Fassadenmarmor auf den Betonrohbau kam, hatten sie einen Krieg entfesselt, der 100.000 Menschen das Leben kostete. Die meisten Opfer hatten serbische Nationalisten zu verantworten.
Die Welt boykottierte Rumpfjugoslawien, 1999 fielen Bomben auf Beograd. Das tat dem Baufortschritt nicht gut.
Aber es wurde weitergebaut.
Der Einfluss der Religionen wächst
Mittlerweile ist auch der Innenraum fast fertig. Auch dank einer Millionenspende der staatlichen russischen Firma Gazpromnjeft und der serbischen Regierung.
Nächstes Jahr soll die Kirche fertig sein. Rechtzeitig zur 800-Jahr-Feier der Eigenständigkeit der serbisch-orthodoxen Kirche.
Man darf vermuten, dass sich die serbische Spitzenpolitik hier geschlossen einfinden wird.
Nation und Religion, das geht am Balkan Hand in Hand. Seit dem Zerfall Jugoslawiens haben Religionsgemeinschaften massiv an gesellschaftlichem Einfluss gewonnen.
Ob man für die offiziellen Festakte wenigstens anstandshalber die Poster entfernt, die an die Säulen des Vorplatzes geklebt sind?
Auf ihnen wird Kosovo i Methojia beschworen. Der alte serbische und mystische Name für den Kosovo.
In Verwendung ist er fast nur mehr in der orthodoxen Kirche. Sie überhöht die ehemalige Provinz bis heute zur Wiege des Serbentums und hintertreibt mögliche politische Einigungen zwischen serbischer und kosovarischer Regierung.
Vermutlich nicht vertreiben lassen werden sich die Tauben, die es sich auf einer Statue des Heiligen Sava bequem gemacht haben. Sie geben seinem Kreuz einen praktischen Nutzen.
Stolz und Elend
Auch vor der offiziellen Fertigstellung erfüllt der Dom viele Serben mit Stolz.
Er gilt als eine der größten Kirchen zumindest Europas. 12.000 Menschen soll er Platz bieten.
Viele bezeichnen ihn gar als größte orthodoxe Kirche westlich von Moskau. Was stimmen mag oder auch nicht.
Mittlerweile scheint sich die nächste Hochzeitsgesellschaft am Vorplatz eingefunden zu haben.
Geheiratet wird hier am Fließband, scheint es. Zumindest, wenn man das Geld für eine ausreichend große Feier hat.
Die Roma-Familie am Eingang ist froh, wenn sie heute abend genug zu essen haben wird.
An die berstend volle Hochzeitstafel wird sie wahrscheinlich niemand einladen.