Die Russen sind da!

Der Strom russischer Emigranten nach Serbien hält an. Meist sind es Gegner des Regimes von Vladimir Putin. Nach Beograd ist Novi Sad zum bevorzugten Aufenthaltsort geworden. Die Situation ist für die Betroffenen alles andere als einfach.

Am Bauzaun der Tiefgarage in der Fußgängerzone von Novi Sad lädt ein selbst gedrucktes A4-Poster Russen zu einem Ostergottesdienst in einer russisch-orthodoxen Kirche ein.

Das Überbleibsel aus dem Mai ist ein sichtbares Zeichen, wie sehr die russische Diaspora in der Hauptstadt der Vojvodina wächst.

Die meisten scheinen etwas abseits vom Stadtzentrum zu siedeln. Dort sind die Wohnungen etwas günstiger. „Wenn ich in meiner Straße spazieren gehe, häre ich fast nur mehr russische Unterhaltungen“, erzählt Leka, ein alter Freund.

Er und ein anderer Freund sprechen von 30.000 Russen in der Stadt. Das wären mehr als zehn Prozent der Bevölkerung.

Das ist ziemlich sicher eine Übertreibung. Gleichwohl, in Serbien dürfte mittlerweile niemand wissen, wie viele russische Staatsbürger im Land sind. Mehr als 35.000 im ganzen Land sind es auf jeden Fall. Und mit Ende 2023 hatten insgesamt 9.000 Unternehmen in Serbien russische Eigentümer – vor allem aus dem IT-Sektor.

Die Unsicherheit liegt auch an Umständen, die etwas später klar werden, und mit sich mit Beobachtungen aus dem Vorjahr verbinden.

Die EU hat ihre Türen versperrt

Im Schanigarten des Restaurant Veliki mit traditioneller Vojvodiner Küche sitzen zwei Russinnen unter 30. Die ältere, dunkelhaarige, übersetzt für die Jüngere Speisekarte und Bestellung von Russisch in die Sprache ohne Namen.

„Ich bin seit knapp einem Jahr hier“ sagt sie mir und stellt sich als Olga vor. Sie ist aus St. Petersburg. „Ich tu mir relativ leicht mit der Sprache, und ich hoffe, dass ich bald eine endgültige Niederlassungsbewilligung habe.“

Die Jüngere wechselt in fließendes Deutsch, als sie hört, dass ich aus Wien bin. „Ich hoffe, dass ich von hier nach Wien komme, um an der Akademie der Bildenden Künste mein Studium weiterzuführen“. Sie stellt sich als Irina vor.

Das könnte schwierig werden. Die EU hat hohe Hürden für die Einreise russischer Staatsbürger aufgetürmt. Brauchten sie vor dem russischen Anrgiff auf die Ukraine im Februar 2022 schon ein Visum, sind mittlerweile die Landgrenzen vor allem auf polnischen Druck zu, Flugverbindungen zwischen der EU und Russland gibt es seit mehr als zwei Jahren nicht mehr.

Das gilt ungeachtet der Tatsache, dass die allermeisten Russen, die seit zwei Jahren auf den Balkan und vor allem nach Serbien kommen, Gegner des Regimes von Vladimir Putin sind. Streng genommen sind diese Emigranten politische Flüchtlinge. Ihnen verweigert die EU nach Möglichkeit jegliche Unterstützung.

Der Visa-Run

Nach Serbien, Bosnien, Montenegro und nach (Nord-)Mazedonien dürfen russische Staatsbürger ohne Visum einreisen, und sich je nach Land zwischen 30 und 90 Tage lang aufhalten.

in Serbien ist es für sie vor allem auch einfach, eine Niederlassungsbewilligung zu erhalten – vorausgesetzt, sie haben einen Job.

Ein russischer Kleinunternehmer hat sich den in der Fußgängerzone von Novi Sad gesichert. Er besitzt ein kleines Cafe. Dort arbeiten ein junger Kellner aus Kazan und eine ebenfalls junge Kollegin aus einer unbekannten Stadt.

Als ich den Kellner um ein Interview bitte, stimmt er zuerst zu, und überlegt es sich später anders.

Wahrscheinlich ist es die Furcht vor Spitzeln. Derlei gibt es in der russischen Diaspora, nicht nur in Serbien, und man kann sich vorstellen, dass diese Furcht auch auf Westler übertragen wird, die sich für die Lebenssituation von Russen im Exil unterscheiden.

Rückblende, Herbst 2023.

Im Balkan Express in Sarajevo treffe ich zwei Moskauerinnen Mitte 20. Sie sind gemeinsam mit ihrem Chef am „Visa-Run“.

So nennen Russen den Versuch, die maximalen Aufenthaltsdauern ohne Visum in Serbien, Bosnien, Montenegro und (Nord-)Mazedonien gesetzeskonform auszureizen. 90 Tage Serbien, dann 30 Tage Bosnien, dann 30 Tage Montenegro, dann 60 Tage (Nord-)Mazedonien, dann wieder Serbien.

So vergeht genügend Zeit zwischen den einzelnen Aufenthalten, um wieder legal einreisen zu dürfen.

Der Chef der Beiden macht irgendetwas mit IT für die Glücksspielbranche. Das geht von überall aus. So können sie sich irgendwie über Wasser halten. Nicht alle haben dieses Glück – auch wenn ein ünerproportional großer Anteil der Russen am Balkan im IT-Sektor tätig ist.

Diesen Visa-Run machen aktuell tausende russische Staatsangehörige am Balkan. So lange das Geld reicht. Oder die Hoffnung da ist, in einem dieser Staaten irgendeine Niederlassungsbewilligung zu erhalten.

Für die beiden Russinnen vom Balkan Express geht sich das langfristig nicht aus. Gegen Jahresende sind sie wieder in Russland, entmutigt.

Die Russen als Sündenböcke

Zurück in der Gegenwart von Novi Sad. „Die vielen Russen treiben die Mieten hoch“, zeigt sich Leka überzeugt. „Man braucht sich da auch nicht zu wundern, wenn eine Stadt in kurzer Zeit so schnell wächst“.

Ähnliche Ansichten höre ich von Freunden aus Beograd.

Für Novi Sad mag der Befund sogar stimmen, aber ohne sehr teifschürfende Recherche kaum überprüfbar sein.

Für Beograd ist er eine gern genannte Ausrede der Verantwortlichen der Stadtpolitik. Die Preise dort treiben aberwitzige Immobilienprojekte wie die in „Beograd na vodi“ umbenannte „Belgrade Waterfront“ seit einem Jahrzehnt hoch.

Den russischen Flüchtlingen die Verantwortung zuzuschieben, ist einfacher als öffentlich einzugestehen, dass die Gentrifizierung der serbischen Hauptstadt mittels Immobilienspekulation das Leben für normale Serben immer unleistbarer macht – und einem das mutmaßlich auch völlig egal ist.

Warum es viele Russen nach Novi Sad zieht

Gleichwohl sind es unter anderem die Mieten beziehungsweise Eigentumspreise, die viele Russen von Beograd nach Novi Sad treiben. In die Vojvodina ziehen nach einem Artikel im New Statesman offenbar vor allem junge Familien. In Beograd bleiben die Hipster.

Das liegt unter anderem daran, dass Novi Sad als kleinere Stadt für Leute attraktiver ist, die es nicht so haben mit Großstädten. Siehe etwa diesen Thread auf Reddit.

Nicht zu vergessen auch die politischen Verstrickungen. Beograd hat ein Netzwerk aus russischen Dissidenten vergangener Jahrzehnte, und an Friedensaktivisten – aber auch an Vertretern und Profiteuren des Regimes von Vladimir Putin.

Und in Beograd ist es wesentlich offensichtlicher als in Novi Sad, dass serbische Rechtsextreme mit Vladimir Putin und seinem Angriffskrieg in der Ukraine sympathisieren. „Z“-Graffiti oder einschlägige T-Shirts sieht man im Stadtzentrum allenthalben.

Die größte Sympathiekundgebung im Zentrum in Novi Sad ist ein Plakat der Radikalen Serbischen Partei von Vojislav Šešelj. „Der Vater ist Serbien, die Mutter Russland“, lautet sinngemäß der Spruch unterhalb des Portraits des Parteigründers.

Sonst zeigen sich die Vojvodiner deutlich weniger geneigt, dem Kreml ihre Aufwartung zu machen als die Landsleute in Zentralserbien. Das dürfte mit ein Beitrag sein, warum sich hier so viele Russen wohlfühlen.

Die Lage für die Betroffenen ist ungewiss

Wie lange diese Russen in Serbien bleiben, ist ungewiss. Das hängt zum großen Teil davon ab, wie lange der Krieg in der Ukraine dauert – und wie er ausgeht.

In ein Russland zurückzukehren, in dem Vladimir Putin fester im Sattel sitzt als das bislang der Fall ist, kann sich keiner derer vorstellen, mit denen ich gesprochen habe.

Ein weiterer Faktor wird die komplexe Außenpolitik von Serbiens Präsident Aleksandar Vučić sein. Er spielt seit Jahren die EU, Russland und China gegeneinander aus. Das reicht häufig zum Vorteil der eigenen Machtposition, setzt ihn aber auch Zwängen aus.

Gut möglich, dass Vladimir Putin irgendwann ein Problem damit bekommt, dass ein tendenziell freundlicher Staat wie Serbien die europäische Zentrale für russische Dissidenten geworden ist. Oder die EU angesichts der vielen Russen in Serbien paranoid wird. Eines der Hauptmotive, warum die EU russischen Dissidenten gegenüber so unfreundlich agiert, ist die Befürchtung, es könnten sich in der Masse an Flüchtlingen auch Spione des Kremls verstecken.

Bleibt auch die Frage, wie lange die Einwohner Serbiens den russischen Neuankömmlingen gegenüber so aufgeschlossen bleiben, wie sie es aktuell sind.

In Montenegro etwa ist die Stimmung schon vor Jahren gekippt, lange, bevor ein Krieg in der Ukraine überhaupt eine Möglichkeit schien. Dort haben sich tausende Russen Wohnungen oder Häuser in Strandnähe gekauft und verbringen ihre Sommer an der Adria.

Denen werfen viele Montenegriner vor, sich nicht und nicht anpassen zu wollen – unter anderem, dass sie die Sprache nicht lernen wollen, und, dass sie die Wohnpreise in unleistbare Höhen getrieben haben.

Die Montenegriner Russen mögen soziodemographisch wenig mit den Flüchtlingen zu tun haben, denen man in Serbien meist begegnet – freilich hört man nicht nur hinter vorgehaltener Hand häufig die gleichen Anschuldigungen.

Sind derlei Geschichten einmal in der Welt, verschwinden sie nicht von alleine. Das zeigt die Erfahrung mit ausländerfeindlichen Ressentiments etwa in Österreich.

Migranten und Flüchtlinge sind Projektionsflächen für die Missstände der eigenen Gesellschaft. In Serbien und anderswo. Dem werden langfristig auch die Russen in Serbien wohl nicht entrinnen können.

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