Dass Bosniens Politik korrupt ist und das Land kaum zu regieren, liegt an der aufoktroyierten bosnischen Verfassung – und daran, dass so viele Menschen aus dem Land ausgewandert sind. Ein Blick auf die Detailergebnisse der Wahl vom vergangenen Sonntag zeigt: Es ist noch viel schlimmer als es scheint. Analyse.
Fangen wir an bei der wichtigsten Frage bei demokratischen Wahlen: Wer darf wählen? Und wie viele?
In Bosnien weiß man das offiziell, und auch wieder nicht.
Etwa 3,4 Millionen Wahlberechtigte stellte die Zentrale Wahlkommission (Centralna Izborna Komisija BiH) für die Wahlen am vergangenen Sonntag fest.
Bemerkenswert.
Im ganzen Land dürften nach den besten vorliegenden Informationen aus dem Statistischen Zentralamt höchstens 2,9 Millionen Menschen leben.
Selbst die jüngste Volkszählung weist nur 3,5 Millionen Einwohner für ganz Bosnien aus. Die ist erstens auch schon acht Jahre alt und zweitens wären bei 3,5 Millionen Menschen 3,4 Millionen Über-18-Jährige ein doch erklärungsbedürftig hoher Anteil.
Selbst wenn man davon ausgeht, dass bis zu einer Million bosnischer Staatsbürger im Ausland lebt, wären 3,3 Millionen Wahlberechtigte nur schwer zu erreichen.
Nur ein Bruchteil der Dijaspora-Bosnier hat sich für die Wahl registrieren lassen.
Einige hunderttausend Wahlberechtigte in Bosnien sind mit hoher Wahrscheinlichkeit Karteileichen.
Ausgewandert, ohne sich jemals abgemeldet zu haben.
Vielleicht sind es nicht nur Karteileichen. Die eine oder andere echte Leiche wird auch in der Kartei als wahlberechtigt geführt werden.
Wenn ein Dijaspora-Bosnier stirbt, ist nicht garantiert, dass auch das Heimatland informiert wird.
Wie hoch war die Wahlbeteiligung wirklich?
Ein wichtiger Grund, dass offiziell nicht einmal die Hälfte aller Wahlberechtigten vergangenen Sonntag wählen ging.
Nur knapp 40 Prozent gingen im bosnjakisch-kroatischen Teilstaat Federacija an die Urnen.
Nur bei der Wahl für einzelne Kantonalparlamente ging etwas mehr als die Hälfte der offiziell Wahlberechtigten ins Wahllokal.
Im serbisch dominierten Teilstaat Republika Srpska war es weniger als die Hälfte – sowohl bei den Präsidentschaftswahlen wie bei der Wahl für das Parlament des Teilstaats.
Die effektive Wahlbeteiligung dürfte deutlich größer gewesen sein.
Wissen wird man es nie, so lange die offizielle Zahl der Wahlberechtigten eine mehr oder weniger beliebige Zahl ist.
Bosnien ist eine Demokratie ohne auch nur halbwegs funktionierendes Wahlregister.
So oder so, die geringe Zahl der Wähler und die Teilung des Landes in zwei Teilstaaten führt zu teils grotesken Auffälligkeiten.
Präsidenten ohne Volk
Besonders deutlich wird das bei der Wahl für die Mitglieder der Präsidentschaft aus der Federacjia. Das sind das bosnjakische und das kroatische Mitglied.
Offiziell gaben bei dieser Wahl um die 40 Prozent der Wähler ihrer Stimmen ab – allerdings nur, wenn man die Stimmzettel für das kroatische und das bosnjakische Mitglied zusammenrechnet.
Effektiv erhielt Sozialdemokrat Denis Bećirović, Wahlsieger für die bosnjakische Mitgliedschaft im Staatspräsidium, knapp 300.000 Stimmen.
Das sind etwa 14 Prozent aller offiziell Wahlberechtigten in der Federacija, und weniger als zehn Prozent aller offiziell Wahlberechtigten landesweit.
Immerhin hat er fast 100.000 Stimmen Vorsprung auf Bakir, den ehemals allmächtigen Vorsitzenden der klerikal-nationalistischen SDA.
(Bakir nennt jeder nur Bakir, um ihn von seinem Vater Alija Izetbegović abzuheben.)
Željko Komšić von der Demokratischen Front wurde mit knapp 200.000 Stimmen als kroatisches Mitglied des Staatspräsidiums wiedergewählt. Das sind 30.000 Stimmen mehr als seine Konkurrentin Borjana Krišto von der klerikal-nationalistischen HDZ erhielt.
(Man sieht hier ausnahmsweise ein erfreuliches Muster: Im Staatspräsidium haben die klerikal-nationalistischen Parteien diesmal nichts zu melden. Das sind auch schon die guten Nachrichten von dieser Wahl.)
Komšić kann sich auf neun Prozent aller offiziell Wahlberechtigten der Federacjia stützen und sechs Prozent aller offiziell Wahlberechtigten landesweit.
Überwältigende Mandate sehen anders, Zersplitterung eines Landes hin oder her.
Auf 300.000 Stimmen schafft es Željka Cvijanović von der nationalistischen SNSD als serbisches Mitglied des Staatspräsidiums.
Das sind auch nur ungefähr 24 Prozent der offiziell Wahlbeteiligten in der Republika Srpska und nicht einmal zehn Prozent der bosnienweit offiziell Wahlberechtigten.
Es reicht, um Cvijanović das Mandat zu geben, zu tun, was ihr Vorgänger Milorad Dodik in diesem Amt getan hat: Alles daran zu setzen, um Bosnien als Staat zu zerstören.
In anderen Worten: Die komplizierte Verfassung Bosniens mit seiner Zweiteilung und die hohe Emigration machen es möglich, dass 300.000 Menschen effektiv den gesamten Staat mit seinen ungefähr 2,9 Millionen Einwohnern blockieren können.
Die Nationalisten bleiben stark. Und korrupt. Und schrumpfen.
Mit dieser Ausgangslage ist es relativ einfach, dass sich nationalistische Parteien mit ihren Klientelsystemen an der Macht halten.
Nationalistische Parteien sind immer korrupt. Bosnien ist hier keine Ausnahme.
Das sieht man auf allen politischen Ebenen, deren Besetzung die Bosnier vergangenen Sonntag gewählt haben.
Im Bundesparlament bleiben SDA und SNSD die stärksten der Parteien. Die SNSD hat 220.000 Stimmen, die SDA 212.000. Nummer drei ist die HDZ mit knapp 120.000 Stimmen.
Das sind zusammen nur knapp mehr als eine halbe Million Wähler.
1996, bei gleicher Verfassung, hatte die SDA – als führender Teil eines Wahlbündnisses – alleine mehr als 900.000 Stimmen, und selbst bei ihrer Abwahl 2000 hatte sie 75.000 Wähler mehr als heute.
Dass die Partei heute nicht einmal ein Viertel der Wähler von 1996 hat, liegt nicht nur daran, dass es heute mehr Parteien in Bosnien und vor allem in der für die SDA entscheidenden Federacija gibt, sondern vor allem daran, dass die Menschen zu hunderttausenden vor jener Politik geflohen sind, die maßgeblich die SDA, die SNSD und ihre Vorgänger, und die HDZ zu verantworten haben.
Ein weiteres Indiz sind die Stimmen für die SDA bei den Wahlen fürs gesamtbosnische Parlaments 2018 und 2022 nur im Teilstaat Federacjia.
2018 kam die SDA dort mit 252.000 Wählern auf 25,5 Prozent der Stimmen.
2022 schaffte sie mit 194.000 Stimmen 25,1 Prozent. In der Republika Srpska bekam sie noch einmal ca. 19.000 Stimmen.
Die drei nationalistischen Parteien werden in allen bosnienweiten Anliegen in den nächsten vier Jahren den Ton angeben – inklusive Einfluss auf die EU-Beitrittsverhandlungen nehmen, sollten die EU diese jemals ernsthaft beginnen.
Die Auffälligkeit namens Christian Schmidt
Was einen zur nächsten Auffälligkeit bringt. Die ist sozusagen nur halb bosnisch, und deutsch zur anderen Hälfte.
Christian Schmidt ist als Hoher Repräsentant eine Art internationaler Kolonialgouverneur über Bosnien.
Vergangenen Sonntagabend warteten die Bosnierinnen und Bosnier auf das Wahlergebnis.
Schmidt fiel nichts Besseres ein, als an diesem Abend das Wahlgesetz in Bosnien zu ändern.
Die teilweise komplizierten Änderungen werden sich auf die Mandatsverteilung zumindest in der zweiten Kammer des bundesweiten bosnischen Parlaments auswirken.
Viel mehr kann man ein demokratisches System nicht verhöhnen.
Die Klerikal-Nationalisten von SDA und HDZ beklatschten diesen Eingriff.
Schmidt hatte die Reform mit ihnen verhandelt – auf Basis eines Papiers, das ihm die Regierung in Kroatien vorgelegt hatte.
Die kroatische Regierung wird gestellt von der – klerikal-nationalistischen HDZ.
Schmidt war früher Politiker der CSU.
Der CSU sind weder das Klerikale noch das Nationale fremd. Mit der HDZ ist man seit jeher bestens befreundet.
Wie bei der ebenfalls konservativen ÖVP reicht die Verbindung zu den kroatischen Klerikal-Nationalisten zurück in Zeiten, da es die Parteien in ihrer heutigen Form noch gar nicht gab.
Ein Schelm…
Was Schmidt geritten haben mag, ausgerechnet an einem Wahlabend ein Wahlgesetz zu ändern, mag wohl nur er sich erklären können.
Selbst das erscheint, nebenbei bemerkt, eine optimistische Annahme.
Noch einmal: Der mysteriös verschwundene Wähler
A prop pos HDZ: Die bleibt mit Abstand die dominante politische Kraft in der Hercegovina.
Im Kanton Westhercegovina erhält sie 24.000 Stimmen – das sind 63 Prozent aller abgegebenen Stimmen. Das entspricht etwa einem Drittel aller offiziell Wahlberechtigten.
So stark auf Regionalebene ist in ganz Bosnien keine andere Partei.
Die Splitterpartei HDZ 1990 erhält 16 Prozent der Stimmen. Das Programm von HDZ und HDZ 1990 in Bosnien sind praktisch identisch.
Im Kanton Hercegovina-Neretva kommt die HDZ „nur“ auf 33 Prozent. Das ist ein deutlicher Abstand zur zweitstärksten Partei, der SDA, mit knapp 20 Prozent.
Klingt nach viel. Sind gerade einmal 29.000 Stimmen.
Es reicht aus, um sich die nächsten vier Jahre behaglich einzurichten.
2018 hatte die HDZ noch mehr als 38.000 Stimmen erhalten, damals waren das knapp unter 38 Prozent.
Offiziell stieg die Zahl der Wahlberechtigten im Kanton sogar leicht, von 195.693 auf 196.119.
In der Republika Srpska gibt es keine Kantone. Der auf separatistischer Basis blutig gegründete Teilstaat wird zentralistisch verwaltet.
Die SNSD hat bei den RS-Parlamentswahlen vergangenen Sonntag 184.000 Stimmen erhalten, oder etwas mehr als 35 Prozent der abgegebenen Stimmzettel.
Wie in den Kantonalparlamenten der Hercegovina bedeutet das einen Rechtsruck in der RS.
2018 hatten nur etwas mehr als 31 Prozent der Wahlberechtigten für Milorad Dodiks Partei gestimmt – allerdings waren das damals um gut 30.000 Republikaserben mehr als am vergangenen Sonntag.
Anders ausgedrückt: Die SNSD als mit Abstand stärkste Partei der RS hat 2022 knapp 15 Prozent ihrer Wähler von 2018 verloren – und erzielt trotzdem einen etwas höheren Stimmenanteil als bei der vergangenen Wahl.
In der Zahl der offiziell Wahlberechtigten spiegelt sich das nicht wieder.
Laut CIK sank die von 1,261 auf 1,259 Millionen in der RS.
Am Abschneiden von SDA, HDZ und SNSD in ihren Hochburgen sieht man, dass der Wählerschwund nicht allein mit sinkender Wahlbeteiligung zu erklären ist.
Dass die jeweils stärksten Parteien in drei verschiedenen Wahlbezirken in etwa den gleichen Stimmenanteil erhalten wie bei den vorangegangenen Wahlen und gleichzeitig erheblich weniger absolute Stimmen haben, ist eher unwahrscheinlich.
Eher wahrscheinlich ist, dass die Emigration mittlerweile auch die Klientelstrukturen und damit die Machtbasis der größeren Parteien in genau dem gleichen Maß erfasst hat wie die gesamte Gesellschaft.
Und dass es Bosnier, die vor der Politik genau dieser Parteien fliehen, nicht einmal für notwendig halten, das im früheren Heimatland bekanntzugeben.
Einen denkbar stärkeren Misstrauensbeweis gegen ein politisches System kann es kaum geben.
In jedem einzelnen Fall ist die Flucht vor diesen Verhältnissen verständlich.
Andererseits hält sie dieses System am Leben.
Man kann sogar sagen: Die Massenflucht stärkt das System, vor dem die Massen fliehen.
Wenn Hunderttausende innerhalb weniger Jahre auswandern, können immer kleinere Gruppen das Land unter sich aufteilen oder es blockieren.
Man sieht’s an dieser Wahl.
Mehr dazu demnächst auch auf https://ballaballa-balkan.de/ – kurz darüber geredet wird bereits in Episode „No Euro, No Pride“.
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