Am Balkan muss Blut fließen. Alle 40 Jahre gibt es einen Krieg, um die offenen Fragen des jüngsten Krieges zu klären. Das ist ein erschreckend gängiges Klischee im ehemaligen Jugoslawien. Man bekommt es auch von gebildeten Menschen zu hören. Das ist gefährlich.
Der Balkanese als solcher, und besonders in der Unterart des Jugoslawen, gleich welcher Zugehörigkeit, ist sozusagen der Vampir unter den Europäern.
Alle 40 Jahre muss er das Blut seiner Mit-Balkanesen saufen, sonst…
Es gibt kein Sonst.
Der Balkanese als solcher, und besonders in der Unterart des Jugoslawen, gleich welcher Zugehörigkeit, kommt nicht auf die Idee, gegen dieses Gesetz zu verstoßen.
Es ist mächtiger als er selbst.
Warum es so ist, erzählen einem die Nationalisten und die Normalen auf unterschiedliche Weise.
Aus Sicht des Nationalisten liegt das im Blut des Balkanesen als solchen, besonders in der Unterart des Jugoslawen genau seiner Zugehörigkeit.
Das Schicksal, in Form fremder Mächte und besonders anderer Balkanesen als solchen, besonders in der Unterart des Jugoslawen drei Kilometer hinter der nächsten Grenze, hat es eben dort eingepflanzt.
Vielleicht mit der Hilfe eines Höheren Wesens, das mit solchen Strafen den Balkanesen als solchen, besonders in der Unterart des Jugoslawen genau eigener Zugehörigkeit, zu den Taten aufstacheln will, die ein Auserwähltes Volk nun mal zu erbringen hat.
Ein solches ist vielleicht nicht der Balkanese als solcher.
Dass es der Jugoslawe genau eigener Zugehörigkeit ist, darüber kann jedenfalls kein Zweifel bestehen.
Sei es durch Vorsehung – siehe Höheres Wesen – oder durch die Passionsgeschichte des Jugoslawen genau eigener Zugehörigkeit im Kollektiv.
Aus Sicht des Normalen sieht das etwas weniger pathetisch aus, wenngleich nicht völlig anders.
Der jeweils jüngste Krieg habe viele Fragen offen gelassen: Wo welcher Balkanese als solcher wohnen darf, speziell der Jugoslawe spezifischer Zugehörigkeiten, etwa.
Welche Grenze um welchen Wohnbereich gezogen wurde, entlang welchen Flusses, unter welchem Hügel.
Auch viele Normale glauben an den Mythos
All das sei an sich belanglos, erklären die Normalen, sei aber Futter für die Nationalisten, und wecke Erinnerungen an die Passionsgeschichte des Balkanesen als solchen, besonders des Jugoslawen gleich welcher Zugehörigkeit.
Der Balkanese als solcher, besonders der Jugoslawe gleich welcher Zugehörigkeit, glaube eben gerne an solche Mythen.
Im Übrigen sei es nun einmal eine vielleicht nicht natürliche aber doch historische, Gesetzmäßigkeit, dass alle 40 oder spätestens 50 Jahre Krieg herrschen müsse auf der Halbinsel.
Der Balkanese als solcher, besonders der Jugoslawe gleich welcher Zugehörigkeit, lasse sich nun mal sehr leicht solchem Unsinn aufstacheln.
Entscheidend ist hier nicht, dass sich beide Versionen leicht unterscheiden.
Entscheidend ist, dass beide den gleichen Unsinn von sich geben. Nur in etwas anderen Worten.
Ein Mythos ohne Basis
Der Balkanese als solcher ist keineswegs blutdürstiger als der Rest der Menschheit.
Die Menschen der Region hassen einander nicht einmal mehr als das Menschen anderer Regionen auch tun.
Also mal mehr, mal weniger, manchmal lustvoll, manchmal gar nicht.
So wie das eben ist, seitdem die Menschen es für eine kluge Idee halten, einander und sich selbst in spezifische Gruppen einzuteilen, die man wahlweise an Kleidung, Sprache, Haut- oder Augenfarbe oder sonstwas erkennen kann und mal als Stämme, Clans, Ethnien, Völker oder neuerdings als Nationen bezeichnet.
Dass der Balkan das Pulverfass Europas ist, und besonders, dass das mit der so genannten Mentalität der Bewohner zu tun hat, ist eine Projektion aus dem 19. Jahrhundert, durchtränkt vom antislawischen Rassismus der Habsburger und Hohenzollern.
Allzugerne übernommen in Teilen oder Versatzstücken von Allen, die sich ein eigenes Süppchen draus kochen wollen.
Leider auch von denen, die an die Vernunft appellieren wollen.
Als Beleg für die These taugt eigentlich nur das 20. Jahrhundert. Das, zugegebenermaßen, war am Balkan und besonders im ehemaligen Jugoslawien besonders blutig.
Hier wurden Fragen geklärt und aufgeworfen, die es ohne Nationalismus gar nicht gegeben hätte.
Der wiederum bis heute am Balkan offener zelebriert wird als im Westen Europas, der sich seit dem Zweiten Weltkrieg etwas zurückhält.
Mit dem Zelebrieren, nicht mit dem nationalistischen Denken.
Nur ist der Nationalismus nichts spezifisch balkanisches oder gar jugoslawisches.
Der Zweite Weltkrieg in Jugoslawien und der Jugoslawienkrieg der 1990-er – oder die Jugoslawienkriege, wenn man es denn nicht als durchgehendes Ereignis betrachten will – stechen mit ihrer Grausamkeit heraus.
Srebrenica war kein Naturgesetz
Wirklich anders als im Rest Europas sind freilich „nur“ die 1990-er.
Auch wenn alle Seiten massive Kriegsverbrechen begangen haben, die meisten gehen zu Lasten serbischer Milizen und der Armee der Republika Srpska, wie der Völkermord von Srebenica als trauriger Höhepunkt der Schande.
Auch über die Rolle der JNA als Ermöglicherin vieler serbisch-nationalistischer Verbrechen gebe es viel zu sagen, aber heben wir uns das für später auf oder überlassen es einer Historikerin oder einem Historiker.
Es soll kein einziges Verbrechen entschuldigen und das Gedenken an kein einziges Opfer der 1990-er mindern, wenn man darauf hinweist: Man kann den Krieg in Kroatien, Bosnien und später im Kosovo nicht ohne den Zweiten Weltkrieg in Jugoslawien und die Verwerfungen der beginnenden kapitalistischen Restauration beim Zerfall Jugoslawiens begreifen.
Ohne beides hätte der Nationalismus nicht die Massenbasis gefunden, die er unbestreitbar hatte. Keineswegs nur in Serbien. Für Kroatien und den Kosovo gilt das Gleiche.
Dass vor allem die BRD und Österreich sehr einseitig und sehr deutlich den kroatischen und später den albanischen Separatismus unterstützten, trug übrigens sehr zur Eskalation bei.
Der Krieg und die Schlächtereien folgten freilich keinem Naturgesetz.
Es sind Menschen für sie verantwortlich. Einige fanden sich auf der Anklagebank des ICTY in Den Haag. Es waren viel zu wenige.
Es waren sehr spezifische Umstände und keineswegs allgemein balkanesische, die diesen Menschen Antrieb und Macht gaben, einen Krieg vom Zaun zu brechen und tausende junge Männer aufzustacheln, ihre Nachbarn zu massakrieren.
Daraus alleine lässt sich keine These der balkanischen oder gar der jugoslawischen Besonderheit entwickeln.
Eine solche These ist auch gefährlich. Dazu mehr in ein paar Absätzen.
Was anderswo passierte
Auch die grausamen Balkankriege 1912 und 1913 waren keine balkanesischen Verirrungen von einem allgemeinen Lauf der europäischen Geschichte.
Keine zehn Jahre später passierte in Polen, der Ukraine und im Baltikum das Gleiche. Teilweise genauso grausam.
Nur redet heute keiner mehr darüber.
Dass sich die Entente 1918 das Osmanische Reich aufteilte und keineswegs zimperlich war gegenüber der Bevölkerung – das lernt man heute zumindest in Mitteleuropa nicht im Geschichtsunterricht.
Das liegt daran, dass es in den beiden letztgenannten Fällen jeweils Interessen so genannter westlicher Großmächte gab.
Da sind solche Kriege immer Teil des Wahren, Guten und Schönen, und wenn nicht das, sind sie zumindest gerecht, und wenn auch das nicht, sind sie schlimmstenfalls zu vernachlässigende Abweichungen vom allgemeinen Lauf der europäischen Geschichte.
Vor dem 20. Jahrhundert lässt sich die These des blutdürstigen Balkanesen als solchem, und besonders in der Unterart des Jugoslawen, gleich welcher Zugehörigkeit, schon gar nicht belegen.
Die Serben etablierten ihre Unabhängigkeit im 19. Jahrhundert mit mehreren Aufständen und Kriegen.
Das taten die Deutschen und Italiener auch.
Deutschland und Frankreich als abschreckendes Beispiel
Die Deutschen redeten sich über den Napoleonischen Kriegen und dem Einigungskrieg 1870/71 ein, die Franzosen seien ihre Erbfeinde.
Einmal in jeder Generation müsse man den Franzosen als solchen niederringen. So wolle es das Gesetz.
Das war nicht hilfreich, um die Deutschen davon abzuhalten, zwei Weltkriege vom Zaun zu brechen.
Die Illusion vom Erbfeind Frankreich hatte ein Eigenleben entwickelt und beeinflusste die Politik Deutschlands in dieser Zeit nachhaltig.
Versöhnliche Gesten gegenüber Frankreich waren nicht drin.
Nicht, dass es bei den Franzosen anders gewesen wäre.
Die sahen die Deutschen ihrerseits als Erbfeind. Und verhielten sich entsprechend.
Über Jahrzehnte fesselten die Klischees vom Erbfeind jenseits der Grenze beide Parteien in einem Teufelskreis des gegenseitigen Misstrauens.
Das Ergebnis ist bekannt.
Der Mythos lähmt die Widerstandskraft
Das Gleiche passiert mit dem Klischee des blutdürstigen Balkanesen als solchem, und besonders in der Unterart des Jugoslawen, gleich welcher Zugehörigkeit, der halt alle 40 Jahre mal Blut saufen müsse.
Es ist Fatalismus, nichts weiter. Der entwickelt immer ein Eigenleben.
Welchen Sinn haben vertrauensbildende Gesten zwischen Nachbarn, welchen Sinn eine Aufarbeitung der Geschichte und vor allem der eigenen Verbrechen, welchen Sinn haben Kompromisse, wenn man in ein paar Jahren ohnehin wieder Blut saufen muss?
Solche Klischees stärken auf Sicht nur stramme Nationalisten und Militaristen. Wenn der Krieg eh unvermeidlich ist, hat man lieber solche Leute an der Macht, die sicherstellen, dass die eigene Seite gewinnt.
Die Normalen starren auf diese Entwicklung wie die Karnickel auf die Schlange.
Man mag falsch finden, was passiert – so lange man es als eine Art Naturgesetz begreift, wird man weniger bereit sein, etwas dagegen zu unternehmen.
Das ist mit Sicherheit eine wesentliche Erklärung, warum in Beograd die groteske Verbreitung von Ratko Mladić-Graffiti achselzuckend hingenommen wird.
Wenn die Falken auch in der Sicht der Tauben ohnehin Oberhand gewinnen müssen, warum soll man sich aufregen über sie?
Klar, dieser Fatalismus ist nicht die einzige Erklärung für die kontraproduktive Politik in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens.
Noch ist die nationalistische Außenpolitik dieser Staaten das einzige Problem, das es in der Region gibt.
Da wäre auch die extrem konzernfreundliche Politik, mit der Arbeitnehmerrechte ausgehöhlt und Löhne gedrückt werden.
Die Korruption nicht zu vergessen. Sie gedeiht in einem nationalistischen Klima immer und überall wie eine Sumpfblüte.
Nur, ohne die Vorstellung, es müsse halt alle 40 Jahre einen Krieg geben, wäre es auch für viele politisch nicht so Engagierte einfacher, sich zu motivieren, wenigstens ein bisschen was zu tun.
Das wäre bitter nötig.
Titelbild: Thomas Topf
Danke, es ist eine verkürzendeDarstellung, aber zutreffend.
Es gibt ein Buch von Tanja Petrović, „Yuropa“, das ich bei der Gelegenheit empfehle. Auszug aus dem Klappentext: „Die sozialistische Vergangenheit Jugoslawiens wird nicht nur von den EU-Politikern ignoriert – ihre positiven Seiten werden auch von den postjugoslawischen politischen Eliten in Abrede gestellt.“
Eine Jugoslawisierung Europas würde mir gefallen. Jebiga und Burek für alle. 😉
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Hat dies auf akinblog rebloggt.
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