Kosovo: Serbische Nationalisten fühlen sich verraten

Serbische Nationalisten fühlen sich von ihrem großen Vorbild Vladimir Putin verraten. Dieser habe den Kosovo am Dienstag de facto als unabhängigen Staat anerkannt, schäumen die regimetreuen Boulevardmedien. Die Realität ist etwas komplizierter. So oder so: Der innserbischen Spannungen wegen des Ukraine-Kriegs steigen.

Hat oder hat er nicht den ultimativen Verrat am serbischen Volk begangen?

So stellt sich aus Sicht der Nationalisten die Frage, wie die Äußerungen des russischen Präsidenten Vladimir Putin zu UN-Generalsekretär Antonio Guterres vom Dienstag aufzufassen sind.

Putin und Guterres sprachen über die „Volksrepubliken“ Lugansk und Donetzk.

Das russische Regime begründete den Überfall der Ukraine unter anderem damit, dass es die Unabhängigkeit der separatistischen Regionen in der Ostukraine verteidigen wolle.

Außer Russland und einer Handvoll mehr oder weniger abhängiger Staaten hat niemand diese „Volksrepubliken“ als unabhängige Staaten anerkannt.

In diesem Zusammenhang soll Putin gegenüber Guterres den Kosovo ins Spiel gebracht haben.

Dieser wird mittlerweile von den meisten Staaten als unabhängig anerkannt. Etliche Staaten haben das freilich bis jetzt nicht getan.

Das sind unter anderem Spanien und – Russland.

Putin nannte offenbar den Kosovo als Präzendenzfall für eine einseitig erklärte Unabhängigkeit vom Mutterstaat.

Was genau er sagte, ist unklar, und es dürfte kaum mehr als Randbemerkung gewesen sein. Die wahrscheinlich wortgetreueste Wiedergabe kommt von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur TASS.

Putin mentioned the decision of the UN International Court of Justice on Kosovo, that in exercising the right to self-determination, the territory of a state is not obliged to apply for permission to declare its sovereignty to the country’s central authorities. He drew attention to the support for this decision by the UN court. „I personally read all commentaries – from legal, administrative, political agencies of the US, European countries. Everybody supported this,“ Putin stressed.

Tass

Der ehemalige serbische Diplomat Srećko Đukić interpretierte diese Äußerungen in einem Interview mit der Nachrichtenagentur Beta als eine „faktische Anerkennung der Unabhängigkeit und Eigenstaatlichkeit des Kosovo“.

„In den Rücken gestochen“

Seitdem schäumen die durchwegs regimetreuen Boulevardmedien in Serbien, wie die kroatische Tageszeitung Jutarnji List zusammenfasst.

„Putin sticht Serbien in den Rücken“, lauten die Titel oder „Nackte Interessen“ oder „Wegen seines Kriegs vergisst er Serbien und den Kosovo“.

Seit dem Zerwürfnis zwischen Tito und Stalin 1948 haben Beograder Medien wahrscheinlich nie so offen eine Äußerung Moskaus angegriffen.

Noch zu Beginn des Krieges hatten die gleichen Medien den Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine abgefeiert. Einige schwadronierten sogar, die russische Armee werde den serbisch dominierten bosnischen Teilstaat Republika Srpska und Serbien vereinigen.

Serbische Nationalisten hatten in mehr als einer Demonstration in Beograd und Banja Luka und anderen Städten russische und serbische Fahnen geschwenkt, um ihrer Hoffnung auf einen schnellen russischen Sieg im Angriffskrieg auf die Ukraine Ausdruck zu verleihen.

Dass Russland den Kosovo nicht als unabhängigen Staat anerkannt, war für sie der Beweis einer unverbrüchlichen serbisch-russischen Brüderschaft.

Dass diese angebliche Brüderschaft mit Ausnahme von 1914 immer nur so weit ging, wie es russischen Interessen nützte, wen kümmert das schon.

Kosovarische Unabhängigkeit ist zweischneidiges Schwert

Sicher spielen in den Äußerungen Putins vor allem Eigeninteressen eine Rolle.

Logisch ist es nur schwer argumentierbar, warum in einem Fall ein vom Ausland unterstützter Unabhängigkeitskrieg belohnt wird und im anderen nicht.

Diplomatisch und völkerrechtlich war die kosovarische Unabhängigkeit immer ein zweischneidiges Schwert.

Das erklärt auch, warum Spanien den Kosovo bis heute nicht als unabhängigen Staat anerkennt. Siehe Baskenland. Siehe Katalonien.

Auch andere Staaten mit starken separatistischen Tendenzen tun das nicht, etwa Indien mit seinem Dauerproblem Kashmir.

Oder China. Das hat mit Tibet eine völkerrechtlich heikle und tendenziell separatistische Region.

Auch Russland hat Probleme mit separatistischen Bewegungen. Außerdem war die Nicht-Anerkennung des Kosovo ein Weg, wie man sich am Balkan billig einen treuen Verbündeten halten konnte.

Nur hat Russland im Moment erstens andere Sorgen, so selbstverschuldet die auch sein mögen.

Und zweitens ist das serbische Regime über diesen selbstverschuldeten russischen Sorgen in den vergangenen Wochen merkbar von Russland abgerückt.

Der Ukraine-Krieg führte zu einem Konflikt zwischen Serbien und Russland

So hat der serbische Vertreter in der Generalversammlung der UN für die Resolution gestimmt, in der beinahe die gesamte Welt den Überfall auf die Ukraine als Angriffskrieg verurteilt und einen sofortigen Abzug der russischen Truppen aus der Ukraine fordert.

Außerdem hat der Krieg in der Ukraine zu einem Zerwürfnis zwischen der an sich nationalkonservativen Partei SNS von Präsident Aleksandar Vučić und dem bisherigen Koalitionspartner in der Regierung, der „sozialistischen“ SPS geführt.

Die nationalistische SPS stellte sich im Ukraine-Konflikt offen auf die russische Seite.

Vučić hat angekündigt, dass er keine Parteien in der Regierung akzeptieren werde, die den Angriffskrieg in der Ukraine befürworten.

Wenn sich die SPS nicht deutlich von Russland distanziere, werde seine SNS eben eine Minderheitsregierung bilden, stellte er die Rute ins Fenster.

Angesichts des üblichen Lavierens von Aleksandar Vučić zwischen EU, Russland und China ein bemerkenswerter Schritt.

Das hat teilweise auch mit dem Kosovo zu tun: Man kann nicht den Kosovo weiter als abtrünnige serbische Provinz betrachten und gleichzeitig die Unabhängigkeit der „Volksrepubliken“ im Donbass unterstützen.

Den Spagat schafft nicht einmal der bekannt aalglatte Vučić.

Außerdem hatte die EU Druck auf Vučić ausgeübt: Deutliche Distanzierung von Moskaus Angriffskrieg oder Dovidjenja EU-Mitgliedschaft – und mit ihr die umfangreichen finanziellen Unterstützungen.

Geld oder Stolz? Diese Wahl fällt einem Nationalisten niemals schwer.

Manchmal muss man sie nur deutlich genug machen.

Das Orakeln Putins zum Kosovo wird die Spannungen mit Sicherheit weiter vertiefen.

Was sagt König Aleksandar?

Vučić hat angekündigt, dass er sich am Samstag zur Frage äußern wird.

Und hier sollte auch die schäumende Reaktion des serbischen Boulevards weniger überraschen.

Der Großteil serbischer Medien hat ein Naheverhältnis zum Regime von Vučić. Die Boulevardmedien sind regimetreu bis zum letzten Bleistift.

Haben sie nach dem Einmarsch Russlands in der Ukraine die Stimmung ausgelotet und eine Drohkulisse einer Ausweitung des Konflikts auf Bosnien aufgebaut – und damit die serbische Position im Konflikt teurer gemacht -, bauen sie jetzt eine Kulisse auf, vor der Vučić überzeugend nationalistisch poltern kann.

Jetzt werde er mit dem Wahnsinnigen im Kreml wohl ein ernstes Wort reden müssen, und wenn Russland Serbien so in den Rücken fällt, wird sich die serbisch-russische Brüderschaft wohl mal fürs erste ein wenig entfremden müssen.

So kann Vučić als Verteidiger der serbischen Einheit auftreten und die Nationalisten wieder an Bord holen, die er mit seiner Distanzierung zum Kreml verloren hat.

Das ist natürlich Spekulation.

Theoretisch könnte die Aufregung auch anders genützt werden. Vučić könnte sich hinstellen und sagen: „Leider, leider, jetzt haben uns auch die Russen verraten. Die letzte Chance ist dahin, den Kosovo zurückzukriegen. Es hat keinen Sinn mehr“.

Das ist nur nicht sehr wahrscheinlich.

Bleibt noch eine Auffälligkeit: Die Boulevarmedien hatten die Empörung über den Kosovo auf den Titelseiten ihrer Printausgaben.

Auf ihren Online-Auftritten haben Informer, Srpski Telegraf und Kurir das Thema offenbar dezent begraben.

Vielleicht war es doch ein wenig zu viel für König Aleksandar?

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