Die Magie der Melancholie und des Märchens

Mit seinem Album „Singer of Tales“ hat die Sarajevoer Sevdah-Legende Damir Imamović Anfang April international für Furore gesorgt. Für das kroatische Portal Lupiga hat Vid Jeraj mit dem bosnischen Sänger gesprochen. Auf Balkan Stories könnt ihr die deutsche Fassung des Interviews lesen.

Seit seinem Debüt im Jahr 2008 konnte der Sarajevo-Sänger und -Gitarrist Damir Imamović der heutigen Generation, im Gegensatz zu den zahlreichen Versuchen anderer Generationen, Sevdah als etwas näherbringen, das größer ist als nur die Musik, die man als gebrannte CDs unbekannten Ursprungs an Tankstellen kaufen kann. Er selbst stammt aus einer Familie, in der seine beiden Großeltern authentische Sänger einer Tradition waren, die auf den Exodus von Juden aus Spanien und ihrer Ansiedlung im Gebiet des ehemaligen Osmanischen Reiches zurückgeht. Neben der Religion brachten die sephardischen Juden auch ein besonderes Gefühl der Melancholie mit, die die Portugiesen mit dem Wort „Saudade“ ausdrücken.

Zuerst füllte Damir seinen Dokumentarfilm über Sevdah mit seinem Charisma und verfeinerte dann durch eine Reihe von Workshops den Balkandiskurs über das Verhältnis von Tradition und Moderne. Das Londoner Label Wrasse veröffentlichte Anfang April sein Album „Singer of Tales“, auf dem neben der Geigerin Ivana Đurić, die mit Sevdah Takht spielt, auch der Bassist Greg Cohen, der mit John Zorn und Woody Allen zusammen arbeitete, sowie der türkische Kemenche-Spieler Derya Türkan zu hören sind. Neben ihnen waren an der Entstehung des Albums auch die Produzenten Joe Boyd (der mit Bands wie Pink Floyd, R.E.M. und Nick Drake arbeitete) und Andrea Goertler (die Produzentin von Saz’iso, einem Projekt zur albanischen Polyphonie) und der mehrfache Grammy-Gewinner Jerry Boys, der das Album aufgenommen und gemixt hat.

Das Album, an dem über drei Jahre gearbeitet wurde, widmet sich der Sevdah als Kunst des Geschichtenerzählens und ist von Albert Lords gleichnamigem Buch inspiriert. Es sollte Ende April und Anfang Mai in Konzerten in Grossbritannien aufgeführt werden, die wegen der Pandemie abgesagt werden mussten.

Der Grund für dieses Gespräch ist dein Album „Singer of Tales“. Wie kann man das genau übersetzen? Verstehst du dich in diesem Sinne als Kollege von Bob Dylan, der mit seinem 17-minütigen Song „Murder Most Foul“ über ein Attentat in Houston ein Kunstwerk rausbrachte, für welches sich selbst ein Guslar-Spieler nicht schämen würde?

– „Singer of Tales“ kann man bei uns als „Geschichtensänger“ oder „Sänger, der die Geschichten singt“ übersetzen. Mit diesem Album wollte ich dem wunderbaren Genre der Sevdah als Kunst des Erzählens Tribut zollen, aber auch seiner unbestrittenen Verbindung mit dem weiteren Kontext der mündlichen Poesie in südslawischen Sprachen, und natürlich dem sehr wichtigen Buch von Albert Lord. Es ist interessant für mich, dass heutzutage viele Parallelen zur amerikanischen Volkstradition ziehen und zu dem, was diese zum Pop, Rock und anderen Genres beigetragen hat. Ich war unendlich erfreut, dass Dylan dieses epische Stück gerade jetzt veröffentlicht hat. Dass Geschichten zum Zeitpunkt der Pandemie erzählt werden, ist eine der ältesten Antworten, über die wir als Menschheit verfügen. Wir glauben einfach nicht, dass etwas passiert ist, wenn es darüber kein Lied oder keine Erzählung gibt.

Die Bastion deiner begleitenden Band ist Greg Cohen, Schwager von Tom Waits und Madonna, Kontrabassist von John Zorn und Woody Allen, der eine gewisse Schwäche für unsere Region hat… Vor dir war er verrückt nach East Rodeo.Neben ihm befinden sich auch Namen wie Joe Boyd, Andrea Goertler und Jerry Boys auf dem Album. Wie spielte sich der Prozess hinter den Kulissen ab?

– Dies ist ein Projekt, von dem ich lange geträumt habe. Ich wollte, dass bereits beim „Casting“ der Band und des gesamten Teams eine Geschichte erzählt wird. Ich denke, das sind wichtige Dinge – Dinge, die bleiben. Es ist einzigartig, dass ausgerechnet Greg Cohen eine Sevdalinka und ausgerechnet Derya Türkan ein Solo auf „Poljem se vija Hajdar delija“ spielen, und dass Ivana Đurić mit Derya, der lebenden Legende der türkischen klassischen Musik, eine Streichsymbiose bildete. Das Zusammenbringen an sich war unglaublich einfach. Wie Joe in seinen Produktionsnotizen schrieb, die vor kurzem vom britischen „The Arts Desk“ veröffentlicht wurden – wenn solche Musiker in einem Raum zusammenkommen, können sie in nur wenigen Stunden das schaffen, wofür andere Wochen brauchen. Es war eine große Ehre, aber auch eine Herausforderung, als Leader vor dieser Band zu stehen. Ich hatte zum Beispiel Angst davor, wie wir die Beziehung zwischen den verschiedenen Stilen bei der Behandlung einer Melodie, die Ivana und Derya mitbringen, zusammenbringen würden. Letztendlich stellte sich heraus, dass meine Sorgen unnötig waren. Das „Casting“ war der Schlüssel: sie spielten, was sie hörten, und verschmolzen zu einer Stimme. Genauso war es bei Greg. Er ist sehr versiert in der Arbeit mit Sängern, von Tom Waits über Dylan bis hin zu Laurie Anderson und vielen anderen. Er spielt für die Musik, für die Lieder, und es ist absolut unglaublich, mit welcher Leichtigkeit er seinen Platz in sehr komplizierten Rhythmen findet, während das Ganze wie ein Kinderspiel klingt. Der andere Teil der Geschichte sind natürlich Joe Boyd und Andrea Goertler als Produzenten, und Jerry Boys als Toningenieur. Von Anfang an wollten wir so arbeiten, wie ich es normalerweise mache: keine Overdubs, mit der ganzen Band im Studio – richtig „altmodisch“. Sie haben sich mit Hingabe dem Klang gewidmet, der so subtil und auf faszinierende Weise sowohl dem Detail als auch dem Gesamtklang gewidmet ist.

Vor kurzem war der Jahrestag der Belagerung von Sarajevo – der Stadt, die dich mit dieser Tradition geprägt hat und, die du, sozusagen, in deiner Hand hältst. Denkst du über die Zusammenhänge zwischen der modernen biotechnologischen Belagerung durch Corona und der gleichsam vormodernen, in der die belagerten Einwohner von Sarajevo lebten und heranreiften, nach?

– Ich habe nicht darüber nachgedacht, aber dass es bei vielen meiner Mitbürger, wo auch immer sie heute leben, einen „Flashback“ gibt, ist gewiss… Diese leeren Straßen, die Abgeschiedenheit Zuhause, die Unmöglichkeit, sich frei zu bewegen und sich mit anderen persönlich zu unterhalten…

Vielleicht ist das beklemmende Gefühl, welches nach der ersten Woche der Isolation, des Rückzugs in sich selbst und in den eigenen Wohnraum, der, wie geräumig er auch sein mag, eng wird. Man wendet sich seinen Nachbarn zu, betrachtet die bekannten Gebäude anders, bemerkt Details, die man vorher nicht gesehen hat. Das alles stellt einen Blick auf das eigene Wesen dar. Wie Augustinus sagen würde: im inneren Menschen wohnt die Wahrheit. Aber leider auch die Unwahrheit. Darüber hinaus ist es immer noch ein Luxus, den wir haben, nicht an vorderster Front in weißen Kitteln stehen zu müssen… Ist das eine zu philosophische Antwort für ein Musikinterview?!

Du hast Philosophie studiert – ein Studium, die einige Leute aus Sarajevo, die auf ihre eigenartige Weise Innovatoren und Vorreiter sind, angelockt hat. Ein Beispiel dafür wäre dein Kollege vom Jazz-Festival… Angesichts dessen, dass das Wort Philosophie eine engagierte Einstellung gegenüber der Materie bedeutetwas auch deine Einstellung in Bezug auf Sevdah ist – könntest du uns sagen, inwiefern dein Studium deine heutige Arbeit geprägt hat?

– Nun, offensichtlich habe ich eine intellektuelle Einstellung zu den Dingen, die ich mache, beibehalten. Es reicht mir nicht aus, „nur“ zu spielen, sondern ich interessiere mich für das Genre Sevdah als Ganzes, als eine Ästhetik, als eine Sichtweise. Ich weiß nicht, ob das „philosophisch“oder einfach die Frucht einer Leidenschaft für diese Sevdah-Kultur ist… Es ist so, wie es ist, und ich kann nichts gegen mich und meine Interessen tun. Ich glaube, die Philosophie hat mich dazu gebracht, nicht nur darüber nachzudenken, was Dinge sind, sondern, was sie sein können. Die Philosophie und die Kunst haben hier viele Berührungspunkte.

Wir haben dich zuletzt in Zagreb als Gast in der Session von „Živa voda“ gesehen und in den letzten Tagen hast du uns als Online-Entertainer unterhalten… Damit meine ich, natürlich, deine Konzertreihe „Release your inner narodnjak“.

– Ich denke, das ist eine normale Auswirkung dieser Selbstisolation. Denn heute hat diese, anders als während des Krieges, das Internet als Stressventil. Jeder findet sein Ventil irgendwo. Die narodnjaci, die ich spiele, sind ein Teil unserer Musikgeschichte und ein Teil meines Erwachsenwerdens, ob ich das will oder nicht. Seit meiner Jugend spiele ich meine Versionen dieser Lieder auf Partys. Manche aus reinem Spaß und andere als wirklich ernstzunehmende, wundervolle Songs. Dabei hatte ich keine Hintergedanken. Ich habe sie aufgenommen, um den Menschen in der Isolation eine Freude zu bereiten…

Das letzte große Projekt war, zugegebenermaßen aus einem anderen Blickwinkel, deine Zusammenarbeit mit„Mimika“, das kürzlich von jemandem als Musik für Hochzeiten und Beerdigungen beschrieben wurde. Dein Mitbürger Goran Bregović hat vor kurzem seinen 70. Geburtstag gefeiert. Hast du das Gefühl, etwas mit ihm gemeinsam zu haben, und wie nimmst du ihn war? Welchen Platz nimmt er im Kulturpantheon des Balkans ein?

– Nun, ich denke, „Mimika“ ist musikalisch ein etwa ambitionierteres Projekt als das, was Bregović macht. Ich würde also nicht zustimmen, dass es sich um Musik für Hochzeiten und Beerdigungen handelt. Das ist nur eine oberflächige Interpretation dessen, was Mak mit diesem Orchester macht. Im Sinne: Bläser hier, Bläser dort – es muss eigentlich ein und dasselbe sein! Aber das ist es nicht… Mak versucht, eine panslawische Tradition neu zu erfinden. Es ist ein sehr ehrgeiziges Projekt, das mit Sicherheit viele Missverständnisse mit sich bringen wird. Die Zeit ist nicht reif für dieses Projekt, das eine Zuhörkultur und eine Ambitionskultur erfordern, die bei uns sehr selten ist. Bregović ist meines Erachtens etwas anderes. Er interessiert sich nur für seine Zeit und für die Ergebnisse. Darin ist er der Meister. In diesem Sinne fühle ich mich dem, was Mak tut, viel näher.

Du bist Leiter einer Sevdah-Werkstatt sowie der Erbe einer Sevdah-Familientradition. Es ist eine Tradition, die im 16. Jahrhundert auf der Iberischen Halbinsel entstand und in der heute bereits toten Sprache, einer lateinischen Version, gesungen wurde. Kürzlich wurde diese Tradition von der portugiesischen Sängerin Lina und dem Produzenten Raül Refree auf Glitterbeat wiedererlebt. Wie betrachtest du solche Phänomene?

– Ich denke nicht, dass die Verbindung zwischen Sevdah und der Musik, über die du sprichst, so direkt ist, obwohl diese Verbindung unbestritten existiert. Es gibt zwei Begegnungspunkte zwischen der früheren „östlichen“ (islamischen, orientalischen) und der früheren „westlichen“ (christlichen, abendländischen) Kultur. Der eine ist die Iberische Halbinsel und der andere ist die Balkanhalbinsel. Auf der ersten wurden Flamenco, Fado, Musik von Sepharden in Ladino geboren… Auf der zweiten Sevdah, Rembetiko und viele andere Genres. Diese Kulturen stehen nicht mehr so getrennt und gegensätzlich zueinander wie früher. Wir alle haben eine Modernisierung durchlaufen, eine Globalisierung, die den Osten und den Westen als getrennte Einheiten aufgelöst hat. Aber der Rest dieser Genres ist ein Zeugnis dafür, dass wir voneinander lernen, zusammen kreieren und zusammen leben können. Was wir als Nächstes machen werden, ist unserer Entscheidung überlassen. Und immer, wenn man entscheiden kann, stellt sich auch die Frage einer ethischen Verpflichtung, eine bessere Welt aufzubauen.

Die Geige war von Anfang an die zweite Stimme deiner künstlerischen Vision, seit dem Debüt, dessen Sound Kammermusik war… Und hier ist sie auf dem neuen Album.Bezieht sich das auf eine bestimmte Geschichte in deiner Kindheit oder Familie? Man sagt ja, dass Geige am besten die menschliche Stimme nachahmt.

– Eine meiner größten Lieben, wenn wir über Sevdah sprechen, ist die Geige, wie sie der berühmte Geiger des Nationalorchesters von Radio Sarajevo Miki Petrović spielte. Als Kind habe ich ihm oft bei Familienfeiern, bei den Gigs, die er mit meinem Vater Nedžad gespielt hat, zugehört. Jahrelang war ich auf der Suche nach jemandem, der so gut wie er Geige spielen kann. Ich habe mit Sloba Stančić, Mikis Schwager und jemand, der jahrzehntelang mit Miki gespielt hat, Zeit verbracht und musiziert. Und dann traf ich zufällig Ivana Đurić in einem Musikstudio, das von meinem Bruder Nedim gemanagt wird. Sie lernte Geige bei Branko Petković, einer weiteren Geigerin des einst legendären Nationalorchesters. Sie studierte klassische Geige in Sarajevo und Frankreich, spielte im Radio und entwickelte einen Stil, der eine ungewöhnliche Fortsetzung dieser Tradition darstellt. Wir sind ständige Spielpartnern geworden, und ich höre in ihrem Spiel nicht nur die Sevdah-Tradition, sondern auch ihre Zukunft. Ich war überglücklich, als Greg Cohen während der Studioaufnahmen für das Albums zu mir sagte: „Damir, sie ist keine Musikerin, sie ist eine Naturgewalt!“

Interview: Vid Jeraj für Lupiga.

Übersetzung: Dušica Pavlović, KOSMO.

Das Original-Interview findet ihr HIER. Auf Balkan Stories erscheint es mit freundlicher Genehmigung von Vid Jeraj.

Titelfoto: Samir CK

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