Im Skandallager Vučjak bei Bihać in Nordwestbosnien bedroht die Kälte hunderte Flüchtlinge. Die Plattform SOS Balkanroute, der Verein We Help und die oberösterreichische Flüchtlingshelferin Brigitte Holzinger haben den bislang größten Hilfstransport für die Menschen organisiert. Balkan Stories hat sie begleitet.
Ein kleines Feuer brennt in der ehemaligen Fabrikshalle am Stadtrand von Bihać.
Man sieht den Schein durch die zerbrochenen Glasscheiben des Eingangstores, wenn man ganz nah am Gebäude steht.
Als unser Kleintransporter stehen bleibt, macht niemand auf.
„Ich bin’s, Zemira“, ruft Zemira Gorinjac. Sie ist die wohl bekannteste Flüchtlingshelferin der Stadt.
Langsam öffnet sich die Tür.
Aus der Dunkelheit schälen sich die Köpfe einiger Männer. Ihr Alter lässt sich in der Dunkelheit nur schwer einschätzen. Sie sind meist nicht ganz jung und nicht ganz alt.

Sie kommen offensichtlich aus verschiedenen Teilen der Welt, die meisten wahrscheinlich aus dem Mittleren Osten.
„Wir haben gedacht, ihr seid die Polizei und haben uns versteckt“.
Vielleicht sind es 20 Leute, die hier campieren. Decken, Schlafsäcke, sind auf dem kalten Betonboden ausgebreitet. Was auch immer warmhält.
In der hinteren Hälfte der kleinen Halle ist eine ungesichterte Öffnung. Ein Überbleibsel aus Fabrikszeiten. Vielleicht war hier eine Hebebühne. Wie tief es hier heruntergeht, lässt sich nicht abschätzen.
Zemira gibt ihnen warmes Essen. Burek. Gerade gekauft beim Bäcker.
Wer hier haust, hat es geschafft, der Polizei in der Stadt zu entgehen und nach Vučjak gebracht zu werden.
Das ist ein illegales Lager auf der ehemaligen Mülldeponie der Stadt. Bürgermeister Šuhret Fazlić ließ es im Frühling öffnen, um alle Flüchtlinge dorthinauf zu bringen, die nicht in einer der offiziellen Unterbringungsstellen registriert sind.
Vučjak gilt als das schlimmste Flüchtlingslager Europas.
„Soll ich euch ein paar Plastikplanen bringen, damit ihr die Fensteröffnungen schließen könnt?“, fragt Zemira.
„Danke, aber wir bleiben nicht lange hier“, sagt einer der Männer. Sein Akzent klingt nach Afghanistan oder Pakistan.
Aus der Region kommen die Meisten hier. Ein oder zwei sind aus dem Iran, ein paar andere aus Somali.
Alles Orte, in denen kein Mensch leben möchte, der seines Lebens oder seiner Freiheit sicher sein will.
Das gefährliche Spiel
Morgen oder übermorgen wollen sie das Spiel spielen.
„The Game“. So nennen die Menschen den Versuch, über die nahe Grüne Grenze nach Kroatien zu gelangen. In die EU.
Kroatische Polizei und kroatisches Militär bewachen die Außengrenze scharf und häufig mit illegalen Methoden.
Wer erwischt wird, wird meist verprügelt, manchmal auch schwerer verletzt. Was auch immer er an Lebensnotwendigem dabei hat, Schlafsäcke, Geld, Decken, Schuhe, verbrennen die Grenzpolizisten.
Smartphones werden zerstört. Sie sind die wichtigsten Navigationsgeräte für Flüchtlinge.
Dann werden die Geprügelten, Verletzten, Ausgeplünderten zurück nach Bosnien gebracht. Häufig illegal. Man setzt sie ganz einfach irgendwo aus.
Legal wäre, die Leute an eine bosnische Grenzstation zu bringen. Das würde ihnen zumindest eine minimale Versorgung garantieren.
Keinen Schritt weiter. Und wenn es bedeutet, jeden Anschein von Rechtsstaat aufzugeben. Das ist die Botschaft des baldigen Schengenlandes Kroatiens. Mit finanzieller Unterstützung durch die EU.
Bis zu 6.000 Flüchtlinge sollen sich in Bihać aufhalten. Die Stadt ist das Zentrum für die Fluchtbewegung über die angeblich gesperrte Balkanroute geworden.
Das überfordert auf Dauer nicht nur die Flüchtlinge, die hier gestrandet sind. Auch Behörden und Bevölkerung kommen nicht mit der Masse an Menschen zurecht.
Probleme, die unweigerlich in so einer Situation entstehen, werden aufgebauscht und zur Panikmache benutzt.
Im schlimmsten Lager Europas
Vučjak, Sonntagmittag.
Es hat geregnet. Der dünne Lehmboden über dem Müll der Stadt ist voller Pfützen.

Die meisten der 6- bis 800 Flüchtlinge hier muss auf diesem Boden schlafen. Die wenigsten Zelte haben irgendeine Art von Boden oder Matte.
Die Leute stehen Schlange.
Die Plattform SOS Balkanroute von Rapper Kid Pex alias Petar Pero Rosandić, der Verein We Help rund um Renato Čiča und die Flüchtlingshelferin Brigitte Holzinger aus Kremsmünster haben vier Lkws voller Decken, Schlafsäcke, Winterkleidung und Schuhen organisiert.
Begleitet werden sie von mehr als einem Dutzend Helferinnen und Helfern aus Wien und von Nurten Yilmaz, Nationalratsabgeordnete der SPÖ.
„Wir können hier nur ein bisschen das Feuer löschen“, sagt Pero. „Die Schuld liegt eindeutig bei der Europäischen Union und den geschlossenen Grenzen. Hier besteht die Gefahr, dass Leute erfrieren, da müssen wir helfen.“
Auf mehreren Tischen unter einem Zelt liegen die Hilfsgüter ausgebreitet. Genau geordnet. Schlafsäcke, Decken, Schals, Winterjacken, Schuhe etc.

Soweit wie möglich haben die Helferinnen und Helfer sie nach Größe vorsortiert.
Die Freiwilligen aus Österreich und Freiwillige vom Roten Kreuz Bihać händigen die Hilfsgüter so rasch wie möglich an die frierenden Flüchtlinge aus.
Drei Polizisten und ein paar Mitarbeiter des Roten Kreuzes verhindern einen Massenansturm auf das Zelt und stellen sicher, dass die Flüchtlinge zur Not auch stundenlang in der Schlange stehen.
Alles andere würde zu Chaos führen und in dieser Situation möglicherweise auch zu Gewalt.
Als ob sie nie etwas anderes getan hätten
Die Rot-Kreuzler und die österreichischen Freiwilligen haben sich erst am Tag davor kennengelernt, als sie die Hilfsgüter aus insgesamt vier Lkws entladen und im Rot-Kreuz-Lager für die Verteilung vorbereitet haben.
Eng zusammengearbeitet haben sie noch nie.
Man merkt es nicht.
Jede kennt ihre, jeder seine Rolle.
Kisten und Säcke entleeren, leere Boxen entsorgen, die Hilfsgüter auf die Tische legen, sie an die Menschen weitergeben und dabei aufzupassen, dass jeder kriegt, was er braucht und idealerweise in der richtigen Größe – es funktioniert als hätten diese Menschen nie etwas anderes getan als gemeinsam Hilfsgüter verteilt.
Selbst Sprachbarrieren spielen keine Rolle.
Was hier hilft, ist, dass die meisten österreichischen Freiwilligen Organisationserfahrung haben.
Hassan arbeitet für die Volkshilfe Oberösterreich, Arijana für das Wiener Frauenzentrum Ega der SPÖ, andere kommen von der Sozialistischen Jugend oder sind wie Liliom in Wiener SPÖ-Organisationen aktiv.
Durch die Bank kritisieren sie die Haltung ihrer Partei in der Flüchtlingspolitik.
Die unbedankten Aufgaben
Offiziell ist Nurten Yilmaz „nur“ hier, um sich als Nationalratsabgeordnete ein Bild von der Lage zu machen und in Österreich Druck aufzubauen, damit es eine politische Lösung für das schlimmste Lager Europas gibt.
Sie hat sich mit dem Bürgermeister getroffen, mit Flüchtlingshelferin Zemira, erkundigt sich bei Polizisten und Rot-Kreuzlern nach der Lage.

„Was man hier sieht, ist herzzreißend“, sagt Nurten. Man sieht ihr an, dass es sie aufwühlt, dass Menschen so behandelt werden. Daran, dass dieses Lager geschlossen werden muss, lässt sie keinen Zweifel.
Und auch nicht daran, dass es ihrer Meinung nach eine andere Lösung geben muss als die Menschen mit aller Gewalt, und sei es illegaler, davon abzuhalten, in die EU zu kommen.
Jetzt ist sie hinter aufgetürmten Boxen verschwunden.
Ab und zu taucht ihr Kopf wieder auf.
Nurten sortiert während der Verteilaktion Schuhe nach Größe vor.
Eine dieser vielen kleinen, unglamourösen, unbedankten Aufgaben, die erst ermöglichen, dass ein Hilfstransport dieser Größe ankommt bei den Menschen, die ihn brauchen.
Was nützen die besten Winterschuhe einem der vielen Flüchtlingen, die in ausgelatschten Sandalen herumlaufen, wenn sie die falsche Größe haben?

Um wie viel länger würde es dauern, die Artikel zu verteilen, wenn sich die Flüchtlinge selbst die richtige Größe raussuchen müssten?
Wie viel Chaos würde das schaffen in einem ohnehin chaotischen Lager?
Ja, Nurten sieht es als ihre Aufgabe, öffentliche Aufmerksamkeit und Kritik an diesem Skandallager zu schaffen und den Zuständen, die es hervorgebracht haben.
Aber damit ist es aus ihrer Sicht nicht getan. Geholfen werden muss, wo geholfen werden kann.
Die Schlägerei
Kurz vor dem Anfang der Schlange entsteht Unruhe.
Mehrere Flüchtlinge sind sich in die Haare geraten. Fäuste fliegen.
Nach zwei Stunden Anstellen in der Kälte liegen bei manchen die Nerven blank.
Ein Polizist trennt die Raufenden. Einer flüchtet.
Der Polizist bekommt ihn von hinten zu fassen. Er ringt ihn nieder und fixiert ihn auf einem der Tische vor dem Zelt, wo Listen geführt werden.
Zufällig filme ich die Szene.
„Das darfst du nicht“, sagt mir der Einsatzleiter der Polizei.
„Ich glaube, ich nehme dich mit auf die Wachstube“, sagt mir der Polizist, der eben den Rauflustigen niedergerrungen hat.
Polizisten bei Einsätzen zu filmen, ist in Bosnien verboten.
„Ich weiß, wie das abläuft. Dann stellt ihr es so dar, als würden wir die Flüchtlinge verprügeln. Die dort, die haben gekämpft. Die kannst du filmen“, sagt mir der Beamte nach einer kurzen Diskussion.
Ich lösche das Material. Journalistisch ist es wertlos. Die eigentliche Schlägerei war nicht drauf, nur deren Ende.
Allenfalls opfere ich ein winziges Stückchen im konkreten Fall gegenstandsloser Pressefreiheit. Ich erspare mir und allen anderen Beteiligten unnötige Scherereien.
Egal, wie man es sieht: Der Polizist hat keine unangebrachte Gewalt angewandt.
Tatsächlich könnte die Szene – etwa von einem Dritten willkürlich herausgeschnitten aus meiner geplanten Video – freilich den Eindruck erzeugen, ein bosnischer Polizist prügle einen wehrlosen Flüchtling.
Die Intervention ist sachlich nicht völlig unbegründet.
Die kurze Episode zeigt:
Die Nerven liegen blank.
Man kann es verstehen.
„Soll er doch eine Nacht dort oben verbringen“
Was für Kritiker schwieriger zu verstehen ist, ist die Neigung von Bürgermeister Šuhret Fazlić, für die Zustände im Lager alle anderen verantwortlich zu machen.
Er war es, der es errichten ließ. Er hat vor einigen Wochen die Finanzierung von Essen und Trinkwasser eingestellt.
Seitdem müht sich das Rote Kreuz, die Menschen vor dem Verhungern und dem Verdursten zu bewahren.
Auch wenn etliche Menschen spenden, das Geld reicht kaum aus. Und die freiwilligen Helfer der Organisation pfeifen nach einem halben Jahr Dauereinsatz aus dem letzten Loch.
Der Bürgermeister zeigt sich dankbar für den Einsatz.
Betont aber gleichzeitig, er könne nichts für die Situation. Irgendwie habe er damit zurechtkommen müssen, dass die bosnischen Behörden und die EU nicht genügend Lager für die Flüchtlinge in der Stadt bereitgestellt haben.
Jetzt sei eben das Geld ausgegangen und die Zentralregierung in Sarajevo stelle nicht ausreichend Mittel bereit.
Man könne die Flüchtlinge nicht mehr aus Mitteln der Stadt versorgen.
Er könne nichts dafür und würde sich über jede Lösung freuen.
Immerhin, er bedankt sich bei den Bürgerinnen und Bürgern seiner Stadt, dass sie Flüchtlinge versorgen und auch bei den internationalen Helfern.
Und kritisiert im Gespräch mit Nurten Yilmaz, dass gegen Flüchtlinge gehetzt wird. Das dürfe nicht passieren.
„Sollte auch in meiner Stadt die Xenophobie steigen, werde ich zurücktreten.“
Sind es die Botschaften eines Menschen, der hilflos ist zwischen internationalen Organisationen und bosnischen Behörden, die einander die Verantwortung zuschieben, für die Flüchtlinge im Land zu sorgen?
Ist es ein überforderter Wohlmeinender?
Oder sind es die Aussagen eines Menschen, der sich irgendwie durchmogeln und aus seiner politischen Verantwortung stehlen will?
Ungeteilten Beifall erntet er jedenfalls bei den Flüchtlingshelferinnen- und helfern in der Stadt nicht.
Zemira Gorinjac zeigt im Gespräch mit Nurten Yilmaz Verständnis, dass der Bürgermeister nur einen eingeschränkten Handlungsrahmen hat.
Ein Lager illegal auf einer ehemaligen Mülldeponie zu errichten und dort nicht einmal die notwendigsten Voraussetzungen zu schaffen, um Menschen zu versorgen, sei aber die falsche Vorgangsweise gewesen.
„Soll er doch eine Nacht dort oben verbringen. Mal schauen, was er dann sagt.“
Balkan Stories berichtete in den vergangenen Monaten mehrfach ausführlich über die Situation in Vučjak. Für einen Überblick, siehe HIER.