Gute Musik vom Balkan hat in Wien ihre besten Tage hinter sich. Abseits von Turbo-Folk und Roma-Musik-Klischees gibt es wenige Nischen. Eine dieser Nischen findet sich an einem Ort, in dem man sie nicht vermuten würde: Im siebten Wiener Gemeindebezirk, innerhalb des Gürtels.
Die Enddreißigerinnen reißen die Arme in die Höhe, als Zoran Dimić den „Zenica Blues“ anstimmt. Der musikalische Tribut an ihre Heimatstadt im heutigen Bosnien ist ein Klassiker des YU-Rock.
Die Nummer liegt Zoran, dem studierten Jazzgitarristen aus Pirot in Serbien. Seit elf Jahren ist er in Wien, hat gekellnert, Musik unterrichtet. Seit drei Jahren tritt er im Beertija auf. „Nicht jede Woche, aber oft“, sagt er.
Die Gigs hier sind ein regelmäßiger Bestandteil seines Lebens als Musiker. Freilich nicht der einzige. „Ich toure auch mit österreichischen Bands und Orchestern durchs ganze Land.“
Klassik, Jazz, YU-Rock- und Pop – Zoran hat ein breites Repertoire drauf. Im Beertija, einem Mittelding aus Pub und balkanischer Kafana, sind vor allem seine Qualitäten als Rock- und Bluesgitarrist gefragt. Nebst seiner Stimme, die für jemanden, der sich hauptsächlich aufs Gitarrespielen konzentriert, mehr als passabel ist.
„Das hier ist das einzige Lokal in Wien, wo es nur Jugo-Rock- und Pop gibt und keinen Turbofolk“, erklärt Admir Kulin aus Favoriten, warum er regelmäßig ins Beertija kommt. Der im bosnischen Brčko Geborene engagiert sich für den Verein Future Bag. Der unterstützt mit Charity-Konzerten den Schulbesuch von Kindern in Bosnien. „Vom Nationalismus haben wir nämlich die Nase voll. Wir wissen, was er anrichtet.“
Minderheitenprogramm YU-Rock
Dass er damit eine Minderheitenmeinung vertritt, betont er selbst: „Schau dich um, wie viele Leute hier sind. 30?“
Das mag sehr konservativ geschätzt sein. Nach Mitternacht werden es beträchtlich mehr werden und im Lokal wird man schon befürchten, dass die Anzahl der Gäste die feuerpolizeiliche Grenze überschreitet.
Freilich, in den bekannteren Balkan-Clubs entlang der Ottakringer Straße im 16. und 17. Wiener Gemeindebezirk wie dem Styxx oder dem Laby ist zu dem Zeitpunkt deutlich mehr los. Die bedienen auch mehr das Bedürfnis der balkanstämmigen Jugend nach Turbo-Folk. Zeitgenössischer YU-Rock steht bei ihnen selten am Programm.
Im Vergleich zum fast sterilen Glamour-Look mit viel Glas der etablierten Clubs kommt das Beertija bescheiden daher. Ein Partykeller mit gemusterter Tapete und das vergleichsweise kleine Erdgeschoss mit vielleicht einem Dutzend Tischen und einem zehn Meter langen Tresen. Das wars.
Für seine Auftritte im Erdgeschoss hat Zoran Platz in einer einzigen Ecke, unmittelbar neben den WCs. Der Stimmung tut das keinen Abbruch und hörbarerweise auch seinem Engagement nicht. Gespielt wird, wo Platz ist. Das ist nicht nur in dieser Kafana so.
Diesseits des Linienwalls
In der Kaiserstraße, im siebten Wiener Gemeindebezirk, wirkt das Lokal wie aus Zeit und Raum gefallen. In dieser Gegend leben nur wenige Migranten. Wenn einer von ihnen ein Lokal aufsperrt, ist es ein nobler Kroate oder zumindest ein gediegener Perser. Fallweise gibt es normale Pubs, die mehr oder weniger zufällig Menschen mit Migrationshintergrund gehören, ohne, dass das im Namen oder an den Stammgästen zu erkennen wäre.
Für Balkan-Pubs mit Livemusik können sich die Bobos im ersten grün regierten Bezirk Wiens eher nicht erwärmen. Zu proletarisch, zu wenig Rauchverbot, zu viel Tuchfühlung mit echten Migranten.
Und wenn schon ein Ausflug ins Migrantische, dann bitte weit weg in den Arbeiterbezirken und bitte im vermeintlich authentischen Fach.
Das Publikum an diesem Freitagabend hat meist einen längeren Weg hinter sich. Die Gäste wohnen in den Wiener Arbeiter- und Migrantenbezirken der Stadt: jenseits der Donau oder zumindest jenseits des Gürtels, der innerstädtischen Durchzugsstraße.
Die meisten sind Migranten erster Generation aus allen Nachfolgestaaten Jugoslawiens, wenn auch Bosnier in der Überzahl sind.
Bis heute trennt der Gürtel, errichtet auf dem ehemaligen Linienwall, der äußeren Verteidigungslinie Wiens, die gutbürgerlichen Bezirke auf der Innen- von den proletarischeren Bezirken auf der Außenseite. Noch.
Diesseits des Linienwalls dürfte das Beertija das einzige Pub mit mehrheitlich ex-jugoslawischem Publikum sind. Eine einzigartige und einsame Stellung.
Duett mit einer Stimme
Zoran hat vor einer Minute die Gitarre an die Wand gelehnt. Er zieht an seiner Zigarette, nimmt einen Schluck Bier.
„Hej, Ciao!“ Freudestrahlend nähert sich Jelena Đukanović auf der Innenseite der Bar Zorans Auftrittsecke, winkt. Spontan springt sie über den Tresen. Kaum zum Stehen gekommen, umarmt sie Zoran herzlich.
Jelena ist die Lead-Sängerin der Hausband „Think Freud!“. Sie kommt aus Tuzla. Die Band spielt wie jeden Freitag im Keller und macht gerade Pause.
Auf der anderen Straßenseite schaltet das hippe Burger- und Steakbistro „Flatschers“ gerade die Lichter aus. Einen Cheeseburger gibt’s dort ab 14 Euro. Für das gutbürgerliche Publikum ist es offenbar spät geworden. Auf diese Straßenseite verirrt sich niemand.
Pause hin, Pause her, Zoran und Jelena spielen spontan eine Nummer, ganz ohne großartige Verabredung. Die beiden sind Vollblutmusiker.
„Trag u beskraju“ von Oliver Dragojević bringt die Enddreißigerin aus Zenica, die vorher bei „Zenica Blues“ gejubelt hatte, beinahe zum Weinen aus Rührung. Sie legt ihren Kopf in Jelenas Schoß.
Jelena und Zoran ergänzen einander perfekt bei dieser Nummer. Beide konzentrieren sich auf das, was sie am besten können.
Jelena, wiewohl passable Gitarrenspielerin, singt. Zoran spielt Gitarre. Als ob sie ein Duett mit einer Stimme sängen.
Wer noch nicht in den Keller runtergewechselt hat, applaudiert heftig.
Heute gibt’s kein Jelen
„Wir gehen runter. Kommt ihr mit?“, fragt Admir.
Der Vorraum mit der Bar und der Konzertraum im Keller sind voll. Junge Menschen, zumeist. Wie aus dem Ei gepellt, die meisten.
In Wien nennt man das die Einser-Panier. Alternativ oder nicht. Das ist immer noch ein Balkan-Lokal und die Leute wissen, was sie dem schuldig sind.
Jelen ist aus heute. Will man Bier von unten, muss man sich mit Karlovačko oder Lav begnügen.
Sarajevsko wäre ohnehin eine Illusion. Nicht mal das legendäre Maršal und der noch legendärere Ost-Club haben es seinerzeit geschafft, regelmäßige Bierlieferungen aus der bosnischen Hauptstadt zu organisieren.
Das Publikum ist nicht nachtragend. Am beliebtesten sind ohnehin Corona und Jägermeister, letzterer vor allem bei den Mädchen.
Die goldene Zeit der Balkan-Musik ist vorbei
Dass der Ost-Club und das Maršal nicht mehr existieren, trägt zur einzigartigen Stellung des Beertija bei. Auch das Melon, mit durchaus ähnlichem Konzept, ist den Weg aller Lokale gegangen. Kaum einen Kilometer weiter auf der anderen Seite des Gürtels ist es Opfer der Gentrifizierung geworden.
Bobostan schiebt sich unbarmherzig in die äußeren Stadtbezirke, findet immer mehr Orte jenseits des Gürtels, zwingt mit seinen hipp-sterilen und kaufkräftigen Bewohnern die jeweilige nähere Umgebung zur Anpassung. Die Arbeiter- und Migrantenbezirke werden langsam aber sicher assimiliert.
Wobei: Das Melon würde es vielleicht noch geben, hätte die Balkan-Musikszene in Wien ihren Höhepunkt nicht vor einigen Jahren überschritten. Damals konnte man dort etwa Edo Maajka sehen und hören oder Amel Ćurić.
Heute gibt es solche Gigs praktisch nur mehr in größeren Clubs oder Konzertsälen. Zahlreiche Plakate im Beertija bewerben bevorstehenden YU-Rock-Konzerte, manche Poster künden von gerade zurückliegenden. YU Grupa etwa trat in der Sargfabrik auf, Vorband war Think Freud!
Der Trend hat seine positiven Seiten. YU-Rock wird damit für die Öffentlichkeit sichtbarer. Die gut 200.000 Menschen mit Wurzeln in Ex-Jugoslawien machen sich auf selbstbewusste Art sichtbar, wenn ihre Bands in etablierten Locations wie der szene Wien auftreten wie Partibrejkers Ende Mai, in der Sargfabrik oder der Pyramide Vösendorf wie Bijelo Dugme Anfang März.
Nur, es sind deutlich weniger Konzerte als vor wenigen Jahren. Gab es früher praktisch pro Woche und Club mindestens einen größeren Gig mit guter Balkan-Musik abseits von Turbo-Folk und Kitsch, kann man heute fast froh sein, wenn das einmal im Monat in der ganzen Stadt der Fall ist.
Für den musikalischen Nachwuchs macht es das bedeutend schwieriger.
Eine unverwüstliche Band
Das Beertija ist die einzige nennenswerte Ausnahme von diesem Trend. Hier gibt’s mehrere Gigs die Woche. Darüber hinaus sind Auftrittsmöglichkeiten für den Nachwuchs nicht allzu breit gesät. Immerhin reicht es, damit Think Freud! von der Musik leben kann. Das ist auch schon etwas.
Die Band ist unverwüstlich heute abend. Es ist kurz nach zwei und sie spielen immer noch.
Neben mir quetschen sich zwei Studentinnen und ein Student aus Bihać in den freien Raum zwischen Wand und Bar. Sie bestellen Gespritzten und Corona.
Seit zweieinhalb Jahren sind sie schon hier, erzählt mir die Studentin, die mir am nächsten steht. Sie heißt Amela. Die Namen der anderen beiden sind im Volumen von Jelenas Stimme kaum zu hören.
„Ich komm nicht jede Woche hierher, aber regelmäßig“, erzählt mir Amela. Sie wohnt mit ihren Begleitern im zwölften Wiener Gemeindebezirk. „Die Stimmung hier ist gut. Und die Musik einfach toll.“ Und: „Hier ist es eigentlich egal, wo man herkommt. Wir sind hier, weil wir Spaß und gute Musik wollen.“
Nach der ersten Runde machen sich die drei auf Richtung Tanzfläche. Think Freud! sorgt noch immer für Stimmung.
Als wir kurz vor drei das Lokal verlassen, gibt es keine Zeichen, dass die Party bald zu Ende ginge. Wahrscheinlich wird sie bis in die nicht mehr ganz frühen Morgenstunden dauern. Wie es sich für eine Kafana gehört.