„Ich weiß nicht, wie man sich entspannt“

Seitdem die ersten Flüchtlinge versuchen, über Bosnien in die EU zu kommen, hilft ihnen Azra aus Sarajevo so gut sie kann. Ihr Haus in Dobrinja ist zu einem Magazin für Lebensnotwendiges geworden – gegen massiven Widerstand der und Schikanen durch bosnische Behörden. Balkan Stories hat sie besucht.

„Von Pero kommst du also?“ begrüßt mich Azra herzlich vor ihrem Haus in Dobrinja am Stadtrand von Sarajevo. „Dann bist du ein guter Freund“. Man spürt auch unter der Burka, wie Azras übers ganze Gesicht strahlt.

Pero, das ist Petar Rosandić, als Rapper auch bekannt als Kid Pex, Gründer der österreichischen Flüchtlingshilforganisation SOS Balkanroute. SOS Balkanroute unterstützt die Hilfstätigkeiten von Azra seit Gründung der Organisation, vor allem mit Sach- und Geldspenden.

„Oni su dobra ekipa“, sagt Azra. „Die sind ein tolles Team.“

Es ist Freitag, später Vormittag. Azra und ihr Mann Mirza machen sich bereit zum Gang in die Moschee. Eine der wenigen Momente, die sie als Familie für sich haben, seitdem Bosnien 2018 Teil der so genannten Balkanroute für Flüchtlinge geworden ist, und tausende Flüchtlinge auf dem Weg in die EU im gebirgigen Balkanland gestrandet sind.

Täglich wartet Azra zwischen 12 und 4 Uhr nachmittags in ihrem Haus, dass Flüchtlinge vorbeikommen und hier Essensrationen, Rucksäcke oder Schuhe holen, die sie zum Überleben brauchen oder im Idealfall für einen neuen Versuch, sich ins EU-Land Kroatien durchzuschlagen.

Außerhalb dieser Zeiten hat sie sozusagen Telefondienst. „Dann schicken mir Menschen eine Nachricht oder rufen an, wenn sie etwas brauchen, und wir machen uns aus, wann sie kommen können.“

Ein sicherer Ort – den bosnischen Behörden abgetrotzt

Was vielleicht bürokratisch klingen mag, hat mehrere ernste Hintergründe.

Azra hat den bosnischen Behörden in jahrelangen Kämpfen abgetrotzt, dass wenigstens ihr und Mirzas Haus Verpflegungsstation für die Flüchtlinge sein darf, die in einem Lager in der Nähe der bosnischen Hauptstadt leben. Ein zähneknirschend geduldeter sicherer Ort für Menschen, die vor Krieg, Verfolgung und Chaos in Syrien, Afghanistan, Pakistan flüchten.

Zu Beginn der Flüchtlingsbewegung über Bosnien hatte Mama Azra, wie sie die Flüchtlinge nennen, noch selbst die illegalen und spontanen Flüchtlingslager aufgesucht, die in ganz Bosnien aus dem Boden wuchsen, in leerstehenden Fabrikshallen, Einkaufszentren, manchmal auch leeren Privathäusern.

Dort verteilte sie, was sie eben hatte – am Anfang vorwiegend Spenden der bosnischen Bevölkerung. Essen, Kleidung, Schuhe, SIM-Karten. Das organisierte sie über einen religiösen Verein, bei dem sie Mitglied ist.

So wurden Pero und SOS Balkanroute auf Azra aufmerksam, und machten die talentierte Organisatorin zu einer der wichtigsten Verteilerinnen österreichischer Spenden in der Umgebung von Sarajevo.

Nicht alle Aufmerksamkeit, die Azra auf sich zog, war freundlich. Auch die bosnische Polizei hatte sie bald auf dem Radar – und dem Kieker. „Dort haben sie mich regelmäßig angehalten, verhört, und mit Strafen gedroht“, schildert Azra.

Damals stellte sie das Verteilsystem um, seither kommen Flüchtlinge zu ihr. Auch der Übergang war nicht reibungsfrei, sagt sie. „Auch vor meinem Haus haben sie am Anfang Flüchtlinge durchsucht“. Ihr gelang es, in einem langen Kampf, diese Schikanen abzustellen – auch dank des starken Rückhalts in der Nachbarschaft. „Seit zwei Monaten hab ich keine Probleme mit der Polizei mehr.“

„Die Medien machen seit Jahren Stimmung gegen Migranten“, sagt Azras Mann Mirza. „Das ist ein politisches Spiel. Die treiben damit die Behörden vor sich her. Und sicher gibt es auch Menschen hier, die so denken. Aber die allermeisten sind nicht so. Die meisten Menschen in Bosnien wollen den Flüchtlingen helfen.“

Dass Azras System fixe Verteilzeiten oder Voranmeldung erfordert, hat auch einen anderen ernsten Hintergrund. Es wäre sonst nicht zu administrieren, und selbst eine leidenschaftliche Helferin wie Azra kann nicht 24 Stunden am Tag für Andere da sein – auch wenn es ihr manchmal schwerfällt, loszulassen.

Seit sechs Jahren hat sie keinen freien Tag im engeren Sinn mehr gehabt. „Einmal, da sind wir auf ein Wochenende in die Berge gefahren“, schildert Mirza. „Kaum waren wir dort, hat das Telefon geklingelt, und ein Flüchtling brauchte etwas.“ An sich hätte Azras 83-jährige Mutter an diesem Wochenende aushelfen sollen, aber Azra traute ihr nicht zu, die Sache alleine zu regeln. „Also drehten wir um.“

Azras Engagement hat viele Gründe. Im Bosnienkrieg in den 1990-ern war sie eine der ersten Frauen in der Armee Bosniens und der Hercegovina. Die lebenslustige Frau sah aus der Nähe, welches Elend Krieg und Vertreibung verursachen. deutlicher noch als die meisten ihrer Landsleute.

Die Wunden, die der Krieg in ihr hinterließ, und die Erfahrung, dass Muslime wie sie ihrer Religion wegen vertrieben und zu tausenden ermordet wurden wie in Prijedor und Srebenrica, ließen sie religiös werden – streng religiös sogar. Sie ist eine der wenigen Bosnierinnen, die auf der Straße Burka tragen, oder, wenn fremde Männer im Haus sind.

Dass sie eine von Bosniens aktivsten Flüchtlingshelferinnen ist, interpretiert sie selbst religiös. „Mir hat Gott gesagt: Du musst diesen Leuten helfen.“

Einem fremden Mann die Hand zu geben, das mag für sie schwierig sein. Sie würde freilich keine Sekunde zögern, dem gleichen fremden Mann Essen zu geben, wenn er hungrig wäre.

Einmal, erzählt sie, klopften hungrige Flüchtlinge bei ihr an. „Wir hatten wirklich kein Essen im Haus, nichts“, schildert Azra. „Ich hab zu weinen begonnen, weil ich den Leuten nicht helfen konnte, und da hab ich eine Freundin in Österreich angerufen. Und die hat gesagt: Mach dir keine Sorgen, warte nur ein bisschen“.

Eine halbe Stunde brachte ein Lieferdienst zehn warme Mahlzeiten. Die Freundin hatte von Österreich aus per Karte bezahlt.

Wie die kroatische Polizei Flüchtlinge schikaniert

Wenn es irgendwie geht, hat Azra für ihre Schützlinge stets Essenspakete parat. Die reichen für zwei, drei Tage – eine große Hilfe vor allem für die, die „the game“ verloren haben. So nennen Flüchtlinge den Versuch, von Bosnien aus nach Kroatien zu gelangen.

In den meisten Fällen werden sie von der kroatischen Polizei aufgegriffen und in der Regel ohne Rechtsgrundlage sofort nach Bosnien abgeschoben. Illegale Pushbacks nennt man so etwas in der Fachsprache. SOS Balkanroute und Amnesty International haben erst vor wenigen Wochen bei einer Fact Checking Reise in Nordbosnien auf diesen Umstand aufmerksam gemacht – und darauf, wie sehr auch die bosnische Politik die Menschenwürde von Flüchtlingen gefährdet.

Regelmäßig verprügeln kroatische Grenzpolizisten die Aufgegriffenen, und sie nehmen ihnen alles ab, was irgendwie hilfreich sein könnte, nach Kroatien zurückzukehren – oder auch nur, sich zu orientieren. Mobiltelefone, Bargeld, Rucksäcke, Schuhe.

Schuhe sind eine der begehrtesten Spenden

So sind denn auch Schuhe eine der begehrtesten Spenden, die die Betroffenen von Azra oder anderen Helfern wie Baba Asim in Bihać bekommen. Erst vor wenigen Tagen etwa hat Arza eine größere Lieferung von SOS Balkanroute bekommen, und zeigt sie mir stolz.

„Ganz wichtig ist, dass wir sie vorab nach Größen sortieren. Sonst wird das schnell kompliziert“.

Vor allem ein Flüchtling ist Azra in Erinnerung geblieben. „Das war ein 17-jähriger Bursche aus Afghanistan. Dem haben sie auch die Schuhe abgenommen. Als er bei uns anklopfte, hatten wir natürlich ein paar für ihn – wir hatten die um 15 Mark hier gekauft. Er hat die Schuhe angezogen, und vor Freude geweint“, schildert Azra. „Ich hab ihn gefragt: Warum weinst du? Er hat gesagt: Das sind die ersten neue Schuhe, die ich in meinem ganzen Leben bekommen habe.“

Ein Netzwerk von Unterstützern – lokal und international

Es sind Erlebnisse wie diese, die Arza die Kraft geben, weiterzumachen, wenn sie sich manchmal müde fühlt. „Ich weiß, ich sollte eine Pause machen und mich entspannen. ich weiß aber nicht, wie das geht.“

Und dann sind da die Bilder, die ihr Schützlinge schicken, die es in die EU geschafft haben. „Das gibt mir viel Kraft, und das es zeigt mir, dass wir wirklich Menschen helfen können, ein besseres Leben zu beginnen.“

Kraft und Unterstützung kommt auch von SOS Balkanroute. Peros Organisation ist ein fixer Bestandteil des Netzwerks von Flüchtlingshelfern in Bosnien geworden – nicht nur mit Sach- und Geldspenden, die vielfach die Hilfe am Leben erhalten. Auch moralisch und politisch ist die NGO eine Stütze für Flüchtlinge und die Menschen, die sie unterstützen.

Und da ist das lokale Netzwerk aus Helfern, die im Gegensatz zur bosnischen Politik nicht vergessen haben, was Krieg, Flucht und Not bedeuten, und die sich, wie Azra und Mirza, nicht dem Druck der Medien beugen, die Augen zu verschließen.

„Es gibt Ärzte, die behandeln keine Flüchtlinge“, schildert Azra. „Aber wir haben einen bosnischen Arzt gefunden, der in Algerien geboren wurde. Der weiß, wie es ist, und er hilft den Leuten, die wir zu ihm schicken.“

Auch einen örtlichen Optiker gibt es, der Brillen repariert oder schnell und kostengünstig neue anfertigt, wenn nötig. „Vor ein paar Monaten kam ein Flüchtling zu uns, der war praktisch blind“, erzählt Mirza. „Dem hatten sie in Kroatien die Brille abgenommen, und ihn irgendwo in Bosnien ausgesetzt.“ Eigentlich bat er Azra nur um Schuhe, Essen und einen Rucksack. „Ich hab ihn dann gefragt: Wie willst du das denn zurück nach Kroatien schaffen? Du siehst ja nichts“, sagt Mirza. „Mir ist ein Rätsel, wie er überhaupt zu uns zurückfinden konnte.“

Ihm hat der Optiker eine neue Brille gemacht. Mit der hat es der Betroffene wieder versucht. Der Ausgang ist ungewiss.

Für Azra und Mirza ist eines sicher: So lange Flüchtlinge in Bosnien sind, werden sie ihnen helfen, wie und wo sie nur können. Und erst wenn es vorbei ist – sollte es jemals vorbei sein – werden die beiden ein Wochenende in den Bergen verbringen. Vielleicht lernt Azra dann wieder, wie man sich entspannt.

Mehr über die Hilfe von SOS Balkanroute könnt ihr etwa auch in dieser Reportage von Balkan Stories sehen oder hier nachlesen.

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5 Gedanken zu “„Ich weiß nicht, wie man sich entspannt“

  1. Dass Kroatien trotzdem in die EU aufgenommen wurde und nicht sanktioniert wird, heisst für mich nichts anderes, als dass das Schicksal von Flüchtlingen der EU ziemlich egal war und bleibt. Ihr Ertrinken wird jedenfalls überwiegend hingenommen. Ich bin nicht ganz sicher, aber dafür interessiert sich soweit ich weiss in Kroatien höchstens die serbische „Novosti“.

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