Gerne würden die Regierungen in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens die drückende Armut verstecken. Das gelingt nicht. Zu groß ist sie, wie eine Reportage aus Beograd von Max Bitter zeigt.
Die lackierten Pressspanplatten wirft der hagere Mann ungeduldig oder ärgerlich beiseite. Wieder greift er mit beiden Händen in eine der drei Mülltonnen in einer Straße gleich hinter dem Nationaltheater in Beograd.
Der Mann in einem undefinierbaren Alter zwischen Ende 30 und Anfang 50 greift sich einige Kartons heraus. Er öffnet jeden und sieht nach, was drinnen ist.
Was brauchbar erscheint, legt er vorsichtig vor der Mülltonne auf den Gehsteig.
Ein Karton von Bialetti scheint es ihm angetan zu haben, dem Produzenten italienischer Espresso-Kännchen.
Hier stopft er Dosen rein und was er vor dem Gehsteig abgestellt hat.
In einem Plastiksack in der mittleren Tonne findet er ein Sandwich.
Den Sack hebt er nicht einmal vollständig aus der Tonne. Er hat eine der Schlaufen über das rechte Handgelenk geschoben.
So bleibt er offen und die Hand einigermaßen frei und kann das Sandwich halten.
Er stopft es sich direkt aus dem Plastiksack in den Mund.
Mit der Linken durchwühlt er weiter die Mülltonne.
Für Serben ist das eine alltägliche Szene
Ein Paar geht die Straße hinunter an ihm vorbei. Sie beachten ihn nicht.
Ich beobachte die Szene aus dem Schanigarten der Tapas Bar. Anders als der Namen vermuten ließe, hat das Lokal nichts zu essen. Es ist ein Cafe mit interessanten Stammgästen und langen Öffnungszeiten.
Die zwei anderen Gäste im Schanigarten fummeln an ihren Smartphones herum. Dem Mann an und in den Mülltonnen widmet keiner auch nur eine Sekunde Aufmerksamkeit.
Als er das Sandwich fertig gegessen hat, findet er in einem weiteren Plastiksack eine Tomate. Er wirft sie weg.
Vielleicht ist sie verdorben oder matschig. Das ist aus der Entfernung nicht zu erkennen.
Was er an Verwertbarem gefunden hat, stopft er in den Bialetti-Karton und diesen in ein weißes Plastiksackerl und zieht von dannen.
Wer Mülltonnen durchsucht, muss nicht mal obdachlos sein
„Ach weißt du, das ist bei uns normal“, sagt Kellner Dejan und zuckt mit den Schultern, als ich ihn auf die Szene anspreche. „Der Mann muss noch nicht mal obdachlos sein. Wahrscheinlich hat er sogar eine Wohnung in der Gegend.“
„Die Leute sind arbeitslos oder leben von Mini-Pensionen. Die müssen sich jedes Monat entscheiden, ob sie die Miete bezahlen oder etwas essen wollen. Ich kenne einen Fall von einer alten Frau. Die hatte eine Eigentumswohnung. Die hat sie verloren, weil sie jahrelang die Stromrechnung nicht bezahlen konnte und die Stromfirma ihre Wohnung enteignen ließ.“
Szene widerspricht den Darstellungen der Politik
Szenen wie diese sollte es nicht geben, wenn man den Einschätzungen von Serbiens Präsident Aleksandar Vučić Glauben schenkt.
Die Wirtschaft sei in den vergangenen Jahren stark gewachsen. Es gebe neue Arbeitsplätze. Serbien gehe es deutlich besser als noch vor wenigen Jahren.
Im Leben der Menschen scheint sich das kaum niederzuschlagen. Durchschnittsgehälter liegen nach wie vor deutlich unter 400 Euro im Monat, manche Pensionen unter 100.
Die Arbeitslosenquote liegt bei 13,5 Prozent. Offiziell.
Das Bruttoinlandsprodukt des Landes mit sieben Millionen Einwohnern betrug 2016 37,7 Milliarden Euro.
Österreich mit knapp unter neun Millionen Einwohnern erwirtschaftete im Vorjahr etwa das Zehnfache.
Zehntausende verlassen Jahr für Jahr das Land. Seit 2002 ist eine halbe Million Menschen ausgewandert.
Von denen, die bleiben, sind viele darauf angewiesen, alles zu Geld zu machen, was sie können.
Eine akzeptable Einnahmequelle
Für manche sind Mülltonnen eine akzeptable Einnahmequelle.
Der Müll wird hier nicht getrennt, anders als etwa in Kroatien.
Im Haushaltsmüll landet von Essensresten, Verpackungen über Altmetall bis zu ausrangierten Elektrogeräten so ziemlich alles.
Entsorgt wird der Müll in den öffentlichen Tonnen, die an praktisch jeder Ecke stehen.
Hier findet sich manches, was man auf einem der zahlreichen Märkte verkaufen kann.
Der professionelle Müllsammler
Keine fünf Minuten, nachdem der erste Mann verschwunden ist, kommt ein junger Mann mit Lastenfahrrad an die Ecke.
Die hellblaue Plastikbox auf der Vorderseite des Rads hat die Dimensionen einer Badewanne.
Er durchsucht die Mülltonnen nach Verpackungsmaterial.
Anders als der Mann vor ihm trägt er Arbeitshandschuhe. Der junge Müllsammler hat abstehende Ohren. Nicht so schlimm wie Sebastian Kurz, aber auffällig genug.
Weder am Lastenfahrrad noch auf seinem roten T-Shirt ist ein Firmenlogo zu sehen.
Plastikflaschen kommen hinten rein. Kartons faltet er sorgfältig zusammen und schlichtet sie am vorderen Ende der Lastenbox ein.
Dazwischen Flaschen und Glasbehälter, die er zusätzlich in ein eigenes Sackerl verpackt.
„Es gibt Firmen, die Recyclingmaterialien kaufen“, sagt Kellner Dejan. „Da gibt’s viele, die sammeln und ihnen Material verkaufen“.
Rechtlich gesehen bewegt man sich in einem Graubereich.
Theoretisch gehört der Müll dem städtischen Müllentsorgungsunternehmen.
Ein alter Freund
Zum professionellen Müllsammler gesellt sich ein ebenfalls relativ junger ausgemergelter Beograder in einem T-Shirt mit einem Detroit-Logo. Es sieht nach AFL-Merchandise aus.
Man begrüßt einander herzlich und unterhält sich, während beide die Tonnen durchstierlen.
Einer der zwei findet ein Plastiksackerl, das sie gemeinsam inspizieren.
Sie finden ein offenbar intaktes Häferl drin, das der Ausgemergelte einsteckt.
Langsam wird es dunkel. Beide ziehen weiter. Der professionelle Sammler steuert vermutlich weitere Mülltonnen an. Die Lastenbox wirkt halbvoll.
Auf den großen Plätzen wie am Trg Republike kaum 200 Meter weiter hügelaufwärts liegt mehr als genug Müll herum, um die Box zu füllen.
Reich wird er nicht werden mit seinem Geschäft. Aber es sichert das Überleben.
Das ist mehr als viele Serben haben.
In der nächsten halben Stunde werden drei weitere Männer die drei Mülltonnen in der Straße hinter dem Nationaltheater durchwühlen.
Reportage: Max Bitter