Die zwei Wochen des Fardil

Der Schulbeginn ist die Zeit, die viele bosnische Eltern fürchten. Schulbücher sind ruinös teuer. Für Menschen wie Fardil schafft das eine Nische. Er lebt davon, gebrauchte Schulbücher zu verkaufen.

Sechs Bananenkartons, aufgestellt auf ihren Seitenflächen. Eine weiße Tür mit den Scharnieren noch dran. 200 Bücher in wohl geordneten Stapeln.

Links von Kundenseite gesehen ein guter halber Meter Mathematikbücher. Rechts Lese- und Übungsbücher für den Sprachunterricht in der Oberstufe. Dazwischen Geschichte, Naturwissenschaften, Fremdsprachen und IT.

Hält.

Das ist Fardils Stand vor der Pijaca Koševo-Ciglanje entlang der Ulica Alipašina am Rand des Stadtzentrums von Sarajevo.

Zehn solcher Stände stehen auf beiden Straßenseiten. Die meisten wirken etwas stabiler as Fardils Konstruktion, wenn auch meist nicht so gut geordnet.

Schnelle Übergabe

Auf der anderen Straßenseite bleibt ein Auto in der Bucht der Bushaltestelle stehen. Der Fahrer ruft etwas heraus.

Fardil schnappt sich ein dickes Buch, ein Wörterbuch Serbisch/Latein samt Grammatik, und hechtet über die Straße, den Autofahrern bedeutend, sie mögen bitte anhalten. Er reicht dem Fahrer das Buch durch das offene Fenster. Der bedankt sich und fährt davon.

Die Sache geht ohne Gehupe ab. Händler und Kunden, die an dieser Ausfallsstraße über die Straße gehen, sind die Autofahrer offenbar gewohnt.

„Der Mann hat das Buch vorher bei mir bestellt und auch schon bezahlt“, sagt Fardil. „Ich hab das bei einem Kollegen besorgt.“

Eine Ehepaar kommt vorbei mit einer Liste über 15 Titel. Das Kind dürfte gerade mit der Oberstufe begonnen haben. „Chemie, 1. Jahr“, sagen sie an. Fardil greift fast blind in den Stoß mit den alten Chemiebüchern. Voila.

Elf Bücher lang geht es so. Den Rest hat Fardil nicht. Vielleicht später. 90 Mark macht das Ganze, 45 Euro. Die Bücher sind auch in halbwegs gutem Zustand.

„Neu kosten die mindestens doppelt so viel“, sagt Fardil.

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Händlerkollege Gazi besucht Fardil.

200 Mark Kosten pro Kind. Gut und gerne.

Das ist dieser Tage mehr als eine akademische Frage für bosnische Eltern. Vergangenen Montag hat die Schule begonnen und wie im Rest der Welt brauchen die Kinder bestimmte Bücher bestimmter Autoren bestimmter Verlage für bestimmte Fächer. Sonst ließe sich Unterricht kaum sinnvoll organisieren.

Nur gibt’s am Balkan, anders als in den west- und nordeuropäischen Sozialstaaten, die Bücher weder gratis noch gibt es nennenswerte Beihilfen für den Kauf noch organisieren Schulen in der Regel am Ende eines Schuljahres Sammelprogramme für gebrauchte und noch verwendbare Schulbücher.

200 Mark und mehr können in der Oberstufe die Schulbücher neu pro Schülerin und Schüler kosten. Das durchschnittliche Monatgehalt in Bosnien liegt bei um die 800 Mark netto.

In Serbien läuft es ähnlich. Dass die Währung dort Dinar heißt und nicht Konvertible Mark, ändert am Verhältnis Kosten zu Einkommen denkbar wenig.

Was es in Bosnien noch komplizierter macht

In Bosnien können auch befreundete Familien oder Verwandte untereinander nur bedingt Bücher weitergeben.

Jede der drei konstituierenden Volksgruppen Bosniens hat ein eigenes Bildungssystem. Kinder orthodoxer Eltern haben zumindest andere Sprachlehrbücher und Geschichtsbücher als die Kinder katholischer oder muslimischer Eltern. Auch die Lesebücher sind unterschiedlich.

Gerade in Literatur, Sprachen und Geschichte seien Unterrichtsmaterialien und Lehrpläne ideologisiert, so wei man eben ideologisieren können, sagen Kritiker Balkan Stories. Der pädagogischen Qualität gilt das nicht als zuträglich. Was die Preise freilich um keinen Deut drückt.

Glück gehört zum Geschäft

„Wir kaufen nur neu, was wir hier nicht finden“, sagt der Vater eines Schülers oder einer Schülerin im Abschlussjahr. Nicht gefunden hat er bei Fardil ein Geschichtsbuch für die vierte Klasse Oberstufe.

Er wird sich bei den anderen Ständen an dieser Ecke umsehen. Fardil hat auch ein paar Tipps. Bei Gazi mit der Krücke schräg gegenüber gebe es das vielleicht.

Wenn das nicht klappt, gibt’s am Rande einiger weiterer Märkte in Sarajevo noch ein paar Stände.

Vielleicht hat Fardil das Gewünschte auch später, so wie vorher bei dem serbischen Vater.

„Natürlich kaufen wir am Ende der Ferien ein. Aber auch jetzt kommen Leute, die alte Bücher verkaufen“, sagt Fardil.

Eine Endvierzigerin im schwarzen Kostüm mit einer dicken Schicht Mascara etwa hat einen Sack voll Schulbücher ihrer Tochter vom letzten Jahr mit. Augenscheinlich waren die damals nicht mehr neu.

Fardil prüft, diskutiert, verhandelt. Ein Mathematikbuch zerfällt fast.

Fardil kauft sechs Bücher für 30 Mark. Die Frau tut etwas enttäuscht, geht heim und holt weitere Bücher.

Frauen im Hijab sind in Sarajevo sehr selten. Jetzt stehen gleich zwei bei Fardils Stand. Zwei Schwestern, der Ähnlichkeit nach zu schließen, die den Einkauf für die ganze Familie übernehmen.

Sie haben ihre Liste fast durch. Soziologie brauchen sie. Bosnisch für die dritte Klasse. Fardil hat in diesem Moment nur die erste und die vierte. „Wartet kurz“, sagt er. Wie immer mit Kunden wirkt er souverän und freundlich.

Die Frau mit dem vielen Mascara ist wieder da. Und hat akkurat das gesuchte Buch dabei. Glück gehört offenbar auch zum Geschäft.

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Eine eigene soziale Schicht

Zehn, vielleicht fünfzehn Tage dauert die Saison, erzählt mir Fadil. So lange haben er und die anderen Schulbuchhändler Arbeit, die so etwas wie eine eigene Klasse oder soziale Schicht bilden.

„Ich mache das seit zehn Jahren“, sagt Fardil, der nach eigener Auskunft 47 ist und ein bisschen älter wirkt. „Ich bin damals arbeitslos geworden und habe nichts neues gefunden.“

Vahid und Fadil auf der anderen Straßenseite sind seit 20 Jahren arbeitslos. Das einzige eigenständige Einkommen, das sie in dieser Zeit erzielt haben, stammt wie bei Fardil von den Schulbuchständen. Gazi geht es nicht besser. Sonst lebt man von Sozialhilfe.

Die offizielle Arbeitslosigkeit in Bosnien liegt bei etwa 40 Prozent.

Sanela und Sabahudin zählen in dieser Schicht zu den Privilegierten. Die Geschwister verkaufen unterm Jahr gebrauchte Bücher oder Ramsch, wie man ihn hier an jeder Straßenecke angeboten bekommt.

Eine Woche noch wird die Saison dauern. Die Schulbuchhändler werden jeden Tag bis zum Abend hierstehen, Wochenenden inklusive.

Dann werden die zwei besten Wochen in Fardils Jahr vorbei sein. Die paar hundert Mark Gewinn werden das Leben von Fardil und seinen sieben Kindern spürbar verbessern.

Und Fardil wird den nächsten Schulbeginn erwarten, wo es wieder etwas zu tun und zu verdienen gibt.

Bildbearbeitung: Majda Turkić

 

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