Cover von Milovan Đilas's Buch "Die neue Klasse. Eine Analyse des kommunistischen Systems".

Die neue Klasse: Eine Enttäuschung

Ich lese gerade Milovan Đilas‘ im Westen hochgelobtes Buch „Die neue Klasse“. Die Abrechnung des seinerzeitigen kommunistischen Funktionäres mit Tito und dem Kommunismus ist eine Enttäuschung.

Kritische Auseinandersetzungen mit dem Sozialismus sind Mangelware, wenn man Tiefgang erwartet.

Eine solche hatte ich erwartet, als ich „Die neue Klasse“ von Milovan Đilas auf einem Bücherflohmarkt erstand. Oder hab ich es aus einem der Offenen Bücherschränke? Keine Ahnung mehr.

Das 1957 erschienene Buch wurde im Westen lange als Analyse und Schlüsselschrift hochgelobt.

Keine dieser Bezeichnungen verdient das Buch.

Was ist denn eine Klasse?

Đilas stellt die These auf, dass die Angehörigen der kommunistischen Parteibürokratie in den sozialistischen Staaten die neue besitzende und ausbeuterische Klasse geworden seien. Sie hätten eine Herrschaft errichtet, die so total sei wie nie in einem politischen System der Geschichte.

Die Thesen kann man aufstellen. Man sollte sie auch argumentieren.

Das tut der ehemals hochrangige Funktionär der KPJ zu keinem Zeitpunkt.

Er macht sich auch nicht die Mühe, überhaupt einen Klassenbegriff zu formulieren. Den bräuchte es, um seine These zu argumentieren.

Tatsächlich erscheint diese These bei allen berechtigten Kritikpunkten schwer überzogen.

Die kommunistischen Parteibürokratien waren in sich zu heterogen, die Mitgliedschaft in ihnen zu fluid, als dass man hier einen Klassenbegriff seriös anwenden könnte.

Übertreibungen schwächen legitime Kritik

Dass sie sich, wie Đilas mehrfach schreibt, die gesamte Produktion der sozialistischen Gesellschaften aneignen würden, ist so übertrieben, dass man es nicht einmal mehr als Halbwahrheit bezeichnen kann.

Das einzige konkrete Beispiel, das Đilas nennt, stammt aus einer exilrussischen Polemik, die in den 50-ern in Paris erschienen ist. Demnach würde ein Bezirkssekretär der KPdSU 40-mal so viel verdienen wie ein durchschnittlicher Arbeiter.

Das ist bei aller Kritik an den Privilegien kommunistischer Funktionäre kaum glaubhaft. Es ist Teil der Gräuelpropaganda, die im Kalten Krieg gerne geäußert und noch lieber aufgegriffen wurde.

Siehe etwa diese historische Rezension im Archiv des Spiegel.

Đilas schlägt in diese Kerbe, legt aber keine Belege im engeren Wortsinn vor. Das schwächt seine eigene Argumentation. Das macht es auch unklar, warum er die näher beschriebenen Privilegien kommunistischer Funktionäre zum Ausgangspunkt einer These macht – wo es andere, weit schwerwiegendere Kritikpunkte an den sozialistischen Systemen gebe, die er zum Teil auch selbst anführt.

Tatsächlich lebten die wenigsten kommunistischen Funktionäre in einem Luxus, der auch nur annähernd mit dem Lebensstil von Industriellen, Großgrundbesitzern oder sonstigen Mitgliedern des Großbürgertums vergleichbar gewesen wäre.

Dass das während des Kalten Krieges und bis heute im Westen anders dargestellt wurde, ändert wenig daran.

Als kritischer Zuseher kommt man aus dem Staunen kaum heraus, wenn etwa das bizarre, spießige, Kleinbürgeridyll der DDR-Führung in Dokus als Luxus bezeichnet wird. Eine Parallelsiedlung besserer Schrebergartenhütten, nicht mehr.

Die jeweiligen Bundeskanzler der BRD lebten besser als Erich Honecker.

Dass Honecker besser lebte als der durchschnittliche DDR-Bürger – ja, eh. Nur, es war eben nicht der überbordende Luxus, als den es heutige Dokus bezeichnen, wenn sie selber die Bilder seines Heims zeigen.

Oder die Wohnungen der Topfunktionäre der KPdSU in Moskau.

Viel geräumiger als die überfüllten Wohnungen vieler Moskauer Durchschnittsbürger. Ja. Nur eben: Wohnungen. Keine Villen, wie sie etwa selbst niederläufige Verwaltungsbeamte oder mittlere Händler des kuk-Reiches am Stadtrand von Sarajevo errichteten.

Ein historisches Gebäude mit einem Fachwerkdesign, umgeben von Bäumen und einem offenen Garten. Die Fassade ist in hellen Farben gehalten und hat große Fenster sowie einen charakteristischen Eingang.
Villa in Ilidža bei Sarajevo aus der kuk-Zeit.

Oder die kleine Villa von Enver Hoxha im Viertel Blloku in Tirana.

Villa Enver Hoxhas im Stadtviertel Blloku in Tirana

Um Vieles besser als die Wohnverhältnisse des durchschnittlichen Albaners im bizarren System Hoxhas. Aber nicht mehr als etwa ein Primararzt in einem durchschnittlichen westlichen Land sein eigen nennen könnte.

Ja, in Albanien waren manche Funktionäre der Partei der Arbeit die Einzigen, die Autos haben durften. Kurioserweise waren es alles Mercedes.

Aber ist ein Mercedes der große Luxus, der belegt, dass diese Funktionäre eine neue besitzende und ausbeuterische Klasse seien, die sich die Produktion der gesamten Gesellschaft aneignet?

Tito und Nicolae Ceaușescu waren die einzigen kommunistischen Staatschefs, die im Luxus im engeren Wortsinn lebten.

1957, als „Die neue Klasse“ erschien, war das nur Tito.

Dessen Lebensstil hätte Đilas detailliert aufdröseln können.

Das wäre auch nur ein Einzelbeispiel, und würde nicht hinreichen, die Generalthese zu bestätigen. Aber es wäre immerhin der Versuch einer Beweisführung.

Aneinandergereihte Allgemeinplätze

Überhaupt bietet das Buch keine „Analyse des kommunistischen Systems“, wie es im Titel heißt.

Es gibt keine Statistiken, so gut wie keine auch nur anekdotischen Belege, kurz: Nichts Konkretes.

Đilas führt eine Generalabrechnung auf Basis von Allgemeinplätzen.

Die sind nicht alle falsch.

Nur verpuffen sie in ihrer Allgemeinheit.

Đilas hätte das politische und ökonomische System des sozialistischen Jugoslawien auseinandernehmen können. Er war einer seiner Architekten gewesen.

Wenn er zurecht schildert, dass politisch Andersdenkende ausspioniert werden, nach Gutdünken angeklagt und verurteilt werden, es keinen Rechtsstaat gibt, freie Meinungsäußerung nur eingeschränkt existiert, verdiente das eine eingehendere Schilderung und Analyse.

Sucht man vergeblich.

Das gilt ebenfalls für die Kritik am Parteibürokratismus. Hier hat sich Đilas sehr deutlich an Leo Trotzki angelehnt.

Nur schilderte das Trotzki auf höherem Niveau, mit tiefergehender Analyse.

Đilas Ausführungen wirken hier bestenfalls redundant.

Das heißt nicht, dass die Kritik an sich falsch ist. Nur, dass sie äußerst schwach ist, und oberflächlich.

Wie das gesamte Buch eine oberflächliche Polemik ist.

Es wiederholt die damals im Westen gängigen Stereotypen. Nicht mehr.

Bei weitem nicht alles ist falsch. Nur eben oberflächlich, und so gut wie nie belegt. Das schadet Đilas‘ eigenen Absichten.

Auch damals konnte der Leser nichts Neues aus dem Buch lernen

Einiges mag man mit der Entstehungsgeschichte des Buches entschuldigen.

Đilas schrieb „Die neue Klasse“ 1956. Er war damals politischer Gefangener. Das Manuskript wurde aus dem Gefängnis und Jugoslawien herausgeschmuggelt. Das Buch erschien zuerst in den USA.

Đilas hatte damals keinen Zugang etwa zu ökonomischen Statistiken. Die wären wichtig gewesen, um seine Generalthese von der neuen Klasse zu belegen.

Das darf freilich keine Ausrede sein, wie das Buch bis zum Ende der sozialistischen Systeme im Westen geradezu zum Schlüsselwerk hochstilisiert wurde, vor allem in linksliberalen und sozialdemokratischen Kreisen.

Entweder ist es gut. Oder es ist es nicht.

Letzteres trifft zu. Selbst nach damaligem Standpunkt. Der Leser konnte in „Die neue Klasse“ auch Ende der 1950-er nichts lesen, was er nicht anderswo gehört oder gelesen hatte. Er konnte aus dem Buch nichts Neues lernen.

Die historische Bedeutung von „Die Neue Klasse“ ist schlicht, dass man mit Milovan Đilas einen Autor hatte, der sich propagandistisch und kommerziell gut verwerten ließ.

Das soll seinen persönlichen Mut kein bisschen schmälern.

Nur macht Mut alleine keine gute Analyse.

„Die neue Klasse“ ist eine einzige Enttäuschung.

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