Cyrano muss sterben

Für Gesundheit und Wirtschaft in Bosnien ist Covid die größte Krise seit Ende des Kriegs. In einem der traditionsreichsten kleinen Lokale im Stadtzentrum sind fast alle Facetten der Tragödie zusammengekommen.

Džani bereitet einen Kaffee vor.

So oft wie früher macht er das nicht mehr, seitdem vor wenigen Wochen die Lokale in Bosnien wieder aufsperren durften.

Sami und ich sind die einzigen Gäste.

Außer uns ist nur Mirza im Lokal, der Besitzer.

Er schielt mit einem Auge auf den Flachbildschirm in der Ecke neben dem Eingang.

Hier sieht er, wer sich seinem zweiten Geschäft nähert. Ein Stand mit Mützen, Kappen, Hüten.

Wir sind im Cyrano, dem Marktcafe des Kleidermarkts in einem Innenhof der Titova in Sarajevo.

„Vor 56 Jahren ist das Lokal eröffnet worden“, sagt Mirza stolz und zugleich traurig.

Nur Marktstandler und alte Freunde kommen noch vorbei

Wer nicht weiß, dass es offen hat, wird achtlos vorbeigehen.

Mit Ausnahme des Lichts bei der Schank sind alle Lichter abgedreht. Es ist düster hier drin.

Nur die Marktstandler wissen, dass wenigstens die Schank des Cyrano für Gäste bereitsteht.

Immer wieder kommt einer auf einen schnellen Kaffee herein.

Andere bestellen eine Runde Kaffee für sich und ihre Kunden am Stand. Džani bringt ihnen die Getränke.

Auch als WC für die Standinhaber- und inhaberinnen dient das Cyrano noch.

Das nächste öffentliche WC wäre sonst im BBI. Das ist einige hundert Meter von hier.

Ein älterer Mann kommt herein. Vielleicht einer der Standler. Jedenfalls ein alter Freund Mirzas.

Er bestellt eine Cedevita zum Capuccino.

Nicht Mirzas einziger Schicksalsschlag

Heute steht Mirza das erste Mal seit Monaten in der Küche.

Eigentlich hat sie zu.

„Das zahlt sich nicht aus. Jeden Tag um sechs aufstehen, und was du verdienst geht für Steuern und die Bank drauf“, sagt Mirza.

„Früher, da ging es. Seit Corona… Auf, zu, auf, zu. Im Ramadan durften wir wieder aufsperren, aber der war eine Katastrophe“, sagt er.

Mit Abstand nicht der härteste Schicksalsschlag für den gelernten Koch.

„Meine Mutter ist vor kurzem an Corona verstorben“, sagt er, so gefasst es halt geht in der Situation.

Da dürfte ihn, den leidenschaftlichen Koch, endgültig die Lust verlassen haben, eine Küche zu führen.

„Weißt du, ich hab überall gekocht“, sagt er. „Auch in einem Lokal am Starhemberger See. Du weißt, König Ludwig und so“.

„Heiße Küche und kalte Küche“, sagt Mirza auf Deutsch und lächelt.

„Aber jetzt?“

Mirza begrüßt einen Kunden bei seinem Marktstand

Pandemie verschärft bosnische Misere

Erschwerend kommt hinzu, dass der bosnische Staat die Geschäftsrückgänge wegen Corona-Maßnahmen nicht abgefangen hat.

Das Land ist seit dem Krieg in einer wirtschaftlichen Dauerkrise und notorisch klamm. Korruption erschwert die Lage zusätzlich.

Und durch die Pandemie sind die Überweisungen der Auslandsbosnier in die alte Heimat um ein Viertel eingebrochen, wie die Nationalbank vor Kurzem mitteilte.

„Leicht ist es nicht“, sagt Mirza. „Das Cyrano hat eine Tradition. Ivo Andrić war hier, alle waren hier. Da, in der Ecke“, deutet er auf den Nebenraum mit den gedeckten Tischen, auf denen niemand Platz nimmt. „Nur Tito war nie hier“.

Mirza sperrt für mich die Küche auf

Einzig für mich ist er heute in der Küche gestanden. Suppe und Gulaš.

„Ich mach dir was“, hat Mirza gestern gesagt, nachdem er zu seiner Freude gehört hatte, wie sehr ich traditionelles bosnisches Essen schätze.

„Weißt du, die Qualität der Nahrungsmittel hier ist die beste, die ich kenne. Das Fleisch ist viel besser als alles, was du in Deutschland kriegst“.

Das Essen ist hervorragend. Wie in alten Zeiten. Das Cyrano war immer ein Geheimtip für alle Liebhaber bodenständiger bosnischer Küche.

Wenn du in einer touristischen Gegend wie dem Stadtzentrum von Sarajevo gut essen willst, geh dorthin, wo die Bewohner hingehen.

Das war im Cyrano der Fall. Es war das Restaurant für die Marktstandler und ihre Kunden.

Seit Covid ist es das nicht mehr.

Seit dem letzten Lockdown serviert Mirza nur mehr Getränke.

Das Cyrano ist nicht das einzige traditionsreiche Lokal, das die Krise hart gebeutelt hat.

Auch das Dva Ribara am Miljacka-Ufer hat seine Küche zugesperrt. Die Besitzer überlegen, das Lokal zu verkaufen.

Es war angeblich das letzte Restaurant in der Stadt, das Lamm noch frisch am Spieß gebraten hat.

Rückkehr zur ohnehin prekären Normalität?

Sicher, es sind nicht die größten Opfer, die Covid in Bosnien gefordert hat.

Mehr als 9.000 Menschen sind bisher an der Krankheit gestorben. Auf die Bevölkerung gerechnet ist das etwa doppelt so viel wie in Österreich, dessen Regierung sich vor allem im vergangenen halben Jahr durch massive Überforderung mit dem Virus hervortat.

In Österreich tragen vorschnelle Öffnungen die Hauptschuld an tausenden Toten und daran, dass sich die Krankheit so schnell ausbreitete.

In Bosnien ist es die überalterte Bevölkerung samt einem Gesundheitssystem, das schon ohne größere Krise kaum europäischen Standards genügt.

Ein Marktstandler betritt das Cyrano

Zudem laufen Impfungen hier nur schleppend an.

Tausende Bosnierinnen und Bosnier sind in den vergangenen Monaten nach Serbien und Kroatien gefahren und haben sich dort impfen lassen.

In diesem Ausmaß ist das aus keinem anderen europäischen Staat bekannt.

Mit Beginn der sonnenreicheren Monate hat sich die Lage auch hier merklich entspannt. Corona-Viren mögen UV-Licht nicht so gern.

Für Mirzas Mutter kam das zu spät.

Wie Mirza mit dem Cyrano weitermachen wird, ist nicht endgültig entschieden.

Das wird wohl auch davon abhängen, ob in Bosnien jene Normalität zurückkehrt, die schon vor der Pandemie prekär genug für die meisten Menschen war.

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