I Thought I’d Write to Juliet

Heute jährt sich der Geburtstag von Tito. Der 1980 verstorbene Langzeitpräsident ist nach wie vor der populärste Politiker in den meisten Nachfolgestaaten Jugoslawiens. In seiner Stadtresidenz in Beograd, wo auch sein Grabmal ist, bekommt er nach wie vor Briefe.

„Ja, es gibt fast täglich Briefe für Tito“. Ana Panić, PR-Verantwortliche des Muzej Istorije Jugoslavije (MIJ) wirkt überrascht, dass irgendwer danach fragt.

Die Kuća cveća, die ehemalige Residenz Titos in Beograd, liegt am hinteren Ende des Gebäudekomplexes des MIJ. Heute ist dort sein Grabmal untergebracht und eine Dauerausstellung, die zum MIJ gehört.

„Sie kommen nicht mit der Post“, sagt sie. „Besucher lassen sie da, meist neben dem Gästebuch.“

Es sind meist Leute, die noch unter Tito geboren wurden und sich an ein Jugoslawien erinnern können, das nicht von Dauerkrisen gebeutelt war und gewaltsam zerfiel, mit mehr als 100.000 Toten.

„Sie tauschen gemeinsame Erinnerungen mit Tito aus“, sagt Ana.

Meist sind es kurze Schriftstücke, kaum eine DIN A4-Seite lang, wie die kurze Notiz eines Admirals der Flotte der JNA, die hier ausgestellt ist. Längere Briefe sind selten. Manchmal sind sie in einem Kuvert, manchmal auch lose Blätter.

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Eine Collage aus Gästebucheintragungen und kurzen Briefen

Manche kommen auch von Besuchern, die vor langem ausgewandert sind und dem Maršal von ihrem neuen Leben erzählen und davon, dass sie lieber in Jugoslawien geblieben wären, wäre es nicht auseinandergebrochen.

Andere klagen über den Zustand der heutigen Welt, erzählt mir ein Kurator der Ausstellung.

Mit Tito ist man per Du

Eines haben alle Briefeschreiber gemeinsam. Sie sind per Du mit Tito. Egal, ob sie ihn mit Druže ansprechen, mit Genosse, mit Maršal oder, seltener, mit Presjednik, mit Präsident. Immer wird das vertraute „ti“ verwendet, nie das förmliche „vi.“

Das war immer so. Ein Brief zu Titos 60. Geburtstag aus Lubljana aus dem Jahr 1952 beginnt mit den Worten: „Unser lieber Maršal, zu Deinem 60. Geburtstag…“

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„Das stammt noch aus kommunistischen Zeiten her“, sagt ein Kurator. „In der Partei haben sich alle geduzt und Tito war sozusagen als oberster Genosse auch mit allen anderen per Du.“

Es erinnert ein wenig an die Briefe, die Julia Cappello nach Verona bekommt. Die Julia aus Shakespeares „Romeo And Juliet“.

Anders als in Verona hat Tito keine Sekretärinnen in der Kuća cveća, die die Briefe beantworten würden. Das wäre auch schwieriger. Die Briefe werden persönlich in der Ulica Botićeva 6 hinterlassen und haben oft keine Absendeadresse.

Genauso wie die Gästebucheinträge sind die längeren Schriftstücke an Tito in den vergangenen Jahren wieder mehr geworden. Wie überhaupt die Besucher des Museums.

Vor zehn Jahren konnte man hier einen Vormittag praktisch alleine mit dem Kurator verbringen. Heute laufe ich einer kleineren skandinavischen Reisegruppe über den Weg, als ich den Museumskomplex betrete und spaziere mit einem Serben und einem Deutschen durch die Ausstellung.

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Staffetten, die Tito in einem Staffellaut durch ganz Jugoslawien jährlich am 25. Mai übergeben wurden, dem Dan Mladosti, dem Tag der Jugend. Tito feierte seinen Geburtstag offiziell an diesem Datum und nicht am 7. Mai, seinem eigentlichen Geburtstag.

Die Zeiten seien schlechter geworden in den meisten Nachfolgestaaten Jugoslawiens, die Menschen würden sich wieder der Zeit der Stabilität unter Tito besinnen, lautet die gängigste Interpretation.

Vielleicht liegt es auch daran, dass sich Nostalgie und der zeitliche Abstand zu einem Geschehen direkt proportional zueinander verhalten.

Oder daran, dass trotz der Restauration weitgehend nationalistischer, wenn auch formal demokratischer, Regime in den meisten Staaten Ex-Jugoslawiens nach kurzen liberalen beziehungsweise linken Intermezzi der nationalistische Furor der 90-er langsam abgeebbt ist und die Erinnerung an das supra-nationale Gebilde Jugoslawiens wieder attraktiver ist.

Tito war immer populär

Tito selbst war freilich immer populär. Vor allem in Serbien und in Bosnien.

In Serbien ist er laut Umfragen der populärste Politiker der Geschichte, knapp vor Präsident Aleksandar Vučić.

Mit dem Unterschied, dass Vučić seit drei Jahren Dauerwahlkampf betreibt und er und seine Fortschrittspartei sich der unkritischen Unterstützung der größten serbischen Medien erfreuen können und nebenbei die Wählermassen mit Klientelismus bei Laune halten.

Tito ist seit 1980 tot. Da kann er nicht mithalten.

Die vorgebliche osteuropäische Sehnsucht nach Autokraten

Eine Interpretation für die Popularität des Langzeitstaatsführers lautet, dass die Serben und/oder die Bosnier eben autoritäre Politiker lieben würden. Das sehe man auch an Vučićs Popularität oder an dem Umstand dass der nationalistische Heißsporn Milorad Dodik im bosnischen Teilstaat Republika Srpska Mal um Mal gewählt wird.

Diese Erklärung erhebt die Frage zu einer Angelegenheit der nationalen Mentalität. Vordergründig mag sie stimmig sein.

Bei genauerem Hinsehen erweist sie sich als klischeebeladene Küchenpsychologie. Die Osteuropäer, so der Subtext, wollen und brauchen eben eine starke Hand. Das sei nicht zu ändern.

Auch im Westen sind die populärsten Politiker der Geschichte die, die autoritäre Züge auswiesen. Der große Unterschied ist nur, dass sie die in einem demokratischen Rahmen auslebten und nicht in einem Ein-Parteien-System oder wie heute einer halbdemokratischen Kleptokratie.

Im Westen heißen autoritäre Politiker nur anders

Im Westen nennt man diese Politiker nicht autoritär. Hier heißen sie Ausnahmepolitiker, starke Persönlichkeiten usw.

Nicht wenige veränderten den demokratischen Rahmen zu ihren Gunsten. Was ihnen erlaubte, autoritärer agieren zu können, ohne den Rahmen zu verlassen.

Man denke an Konrad Adenauer. Das Grundgesetz ist in weiten Teilen auf ihn zugeschnitten. Nicht umsonst spricht man von seiner Ära auch als Kanzlerdemokratie.

Oder Charles de Gaulle, der sich die Verfassung der Fünften Republik mit einem alles überragenden Präsidenten auf den Leib schreiben ließ. Die linke Opposition bezeichnete die neue Verfassung als „andauernden Staatsstreich“.

Auch Napoleon Bonaparte ist sehr beliebt bei den heutigen Franzosen.

Franklin Delano Roosevelt, einer der populärsten US-Präsidenten, scheiterte mit dem Versuch, den Obersten Gerichtshof dauerhaft zu seinen Gunsten zu besetzen. Er ist der einzige US-Präsident, der mehr als zweimal gewählt wurde – ingesamt vier Mal – was damals nicht verboten war, aber sozusagen gegen die ungeschriebene Verfassung verstieß. Nach seinem Tod wurde die Verfassung geändert. Präsidenten dürfen nur mehr zweimal gewählt werden.

Winston Churchill ist bis heute der beliebteste Politiker Großbritanniens. Auch er agierte autoritär. Während des Krieges war das notwendig. Danach hatten auch seine Landsleute genug.

Ebenfalls sehr populär, wengleich umstrittener, ist Margaret Thatcher. Keine britische Regierungschefin der Moderne griff so radikal in die demokratischen Mitbestimmungsrechte der Arbeiterinnen und Arbeiter ein wie sie. Die britischen Gewerkschaften haben sich bis heute nicht von ihrer Amtszeit erholt.

Oder Ronald Reagan. Auch er setzte sich über massive gewerkschaftliche Widerstände hinweg und schwächte die Arbeitnehmervertretung nachhaltig. Reagan gilt als einer der beliebtesten Präsidenten der US-amerikanischen Geschichte.

Und da wäre noch der Umstand, dass in Österreich 43 Prozent der Menschen einen „starken Mann“ in der Politik wollen.

Mit einer vermeintlichen osteuropäischen Mentalität lässt sich die Tito-Nostalgie nicht abtun.

Titos Popularität sagt viel aus über die Lebensumstände der Menschen

Seine Popularität sagt einiges aus. Sei es über ihn oder die Macht nostalgischer Verklärung. Oder die miserablen Lebensumstände der meisten Menschen in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens. Materiell besser als zu seinen Lebzeiten geht es heute nur den Slowenen und allenfalls den Kroaten.

Besonders ausgeprägt ist der Kult in Bosnien. Zumindest im Teilstaat Federacija hat jede größere Stadt eine Straße, die nach ihm benannt ist. Besser als unter ihm ging es den Bosniern weder vor noch nach ihm jemals.

Tito hat Jugoslawien drei Jahrzehnte mit Stabilität, Sicherheit, wachsendem Wohlstand und der größten Freiheit beschert, die es in irgendeinem kommunistischen Land gab.

Das sollte man bedenken, bevor man sich über die Beliebtheit eines Mannes lustig macht, der seit fast 40 Jahren tot ist. Und bis heute Briefe kriegt.

„I Thought I’d Write to Juliet“ ist der Titel eines Songs von Elvis Costello, der auf Briefen an Juliet basiert.

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